Das große Vermächtnis Kyobpa Jigten Sumgöns
„Wenn man den Gongchig kennt,
kennt man den Dharma.
Wenn man den Gongchig nicht kennt,
kennt man den Dharma nicht.“
Eine kurze Einführung in den Gongchig
Als Text wurde der Gongchig von Kyobpa Rinpoches Herzenssohn Chenga Sherab Junge (auch bekannt als Drikung Lingpa, 1187-1241), basierend auf außergewöhnlichen Lehren, die er allein von Kyobpa Rinpoche erhielt, zusammengestellt und bearbeitet. Chenga Sherab Junge war wie Kyobpa Rinpoche ein Angehöriger des edlen Kyura Clans. Als Jugendlicher wurde er Mönch, kam mit einundzwanzig Jahren nach Drikung und wurde Schüler von Kyobpa Rinpoche. Er widmete sein Leben völlig der Dharma-Praxis, verpasste kein einziges Wort, das von Kyobpa Rinpoche gelehrt wurde, und verbrachte seine Zeit, in der er keine Unterweisungen von Kyobpa Rinpoche erhielt, nie mit einer anderen Aktivität als Meditation. Später wurde er Kyobpa Rinpoches persönlicher Begleiter und war bekannt dafür, ein außergewöhnliches Gedächtnis zu haben und völlig vertraut mit all den verschiedenen Unterweisungen zu sein, die Kyobpa Rinpoche gegeben hatte. Es ist dokumentiert, dass Chenga Sherab Jungne in den letzten wenigen Lebensjahren von Kyobpa Rinpoche Belehrungen und Unterweisungen im Namen von Kyobpa Rinpoche gab. Die einzige Art von Unterweisungen, die Chenga Sherab Jungne nicht im Namen seines Lehrers gab, waren die ‚aufzeigenden’ Mahāmudrā-Unterweisungen, die Kyobpa Rinpoche weiterhin bis zu seinem Parinirvāna im Jahre 1217 gab. Obwohl Kyobpa Rinpoche wünschte, dass Chenga Sherab Jungne sein Nachfolger werde, bat Chenga Sherab Jungne, dass es ihm stattdessen erlaubt sei, sich auf seine Praxis zu konzentrieren. Folglich verließ er Drikung nach Kyobpa Rinpoches Parinirvāna und zog sich für sieben Jahre zum heiligen Berg Kailash zurück. Er kehrte schließlich im Jahre 1225 kurz nach Drikung zurück und übertrug die besonderen Lehren, die er von Kyobpa Rinpoche erhalten hatte. Im gleichen Jahr ging er wieder fort. Nachdem er die Zusammenstellung und Bearbeitung des Gongchig 1226 abgeschlossen hatte, bereiste Chenga Sherab Jungne verschiedene Orte, besonders im südlichen Tibet, und gab Unterweisungen zum Gongchig und andere Belehrungen. Er fuhr fort, den Gongchig und weitere Drikung Kagyü Lehren zu verbreiten und verfasste bis zu seinem Parinirvāna im Jahre 1241 zahlreiche Texte.
Strukturell besteht der Gongchig aus 152 primären Vajra-Aussagen mit 46 zusätzlichen oder ergänzenden Vajra-Aussagen. Später ordnete Chenga Sherab Jungne diese Vajra-Aussagen in acht Kapiteln von unterschiedlicher Länge. Dies sind die Kapitel:
- 1. Die Zusammenfassung der wesentlichen Punkte des Rades des Dharmas (30 Aussagen),
- 2. Die Zusammenfassung der wesentlichen Punkte des Entstehens in Abhängigkeit (15 Aussagen),
- 3. Die Zusammenfassung der wesentlichen Punkte des Vinaya Pratimoksha (20 Aussagen),
- 4. Die Zusammenfassung der wesentlichen Punkte der Bodhisattva-Schulung (24 Aussagen),
- 5. Die Gelübde des Wissenshalters des Geheimen Mantras (28 Aussagen),
- 6. Die besondere Sicht, Meditation und Verhalten (20 Aussagen),
- 7. Der resultierende Grund der Buddhaschaft (15 Aussagen) und
- 8. Die zusätzlichen Aussagen (46 Aussagen).
Obwohl der Gongchig viele gleiche Sichtweisen mit anderen buddhistischen und speziell tibetischen buddhistischen Systemen teilt, besitzt er seine eigenen kennzeichnenden Merkmale, die ihn von anderen absetzt. Viele der Vajra-Aussagen werden auf radikale Weise ausgedrückt und fordern bestimmte, weit verbreitete Sichtweisen und Positionen über die buddhistischen Lehren heraus. Das bedeutet nicht, dass Kyobpa Rinpoches Gongchig von den maßgebenden buddhistischen Lehren abweicht, aber stattdessen nimmt der Gongchig oft eine subtilere und tiefgründigere Perspektive bestimmten Fragen gegenüber ein. Während zum Beispiel allgemein akzeptiert wird, dass Handlungen (wie im Abhidharmakosha) als positiv, negativ oder unbestimmt klassifiziert werden können, behauptet der Gongchig, dass wir, wenn wir diesen Sachverhalt reiflicher überlegen, erkennen werden, dass Handlungen notwendigerweise entweder positiv oder negativ sind. Eine anscheinend ‚unbestimmte’ Handlung wie zum Beispiel Schlafen wird notwendigerweise eine unheilsame Handlung werden, wenn man zu Bett ging, um am nächsten Tag erfrischt im Morgengrauen einen Mord zu begehen. Umgekehrt wird der Schlaf eine positive Handlung, wenn man mit der Motivation zu Bett ging, am nächsten Tag zu erwachen, um anderen zu nützen. Selbst wenn man aufgrund von Erschöpfung einschlief und nicht wegen bestimmter Motivationen, ob positiv oder negativ, kann das letzte Bewusstsein, bevor man einschläft, die moralische Qualität des Schlafes bestimmen.
Das Erscheinen des Gongchigs zog naturgemäß die Aufmerksamkeit vieler tibetischer Meister im dreizehnten Jahrhundert auf sich. Viele Debatten und Diskussionen wurden durch die Inhalte des Gongchigs entzündet. Jene, die gegen die radikalen und herausfordernden Interpretationen des Gongchigs Einspruch erhoben, verfassten Abhandlungen, um ihr eigenes Verständnis und ihre Position klarzustellen und herauszukehren, während jene, die von der Tiefgründigkeit des Gongchigs inspiriert waren, Kommentare über ihn schrieben. Unter den frühesten Kommentaren zum Gongchig befindet sich ein Kommentar von einem bestimmten Chenga Rinchen und ein anderer von Dorje Sherab. Die Identität von Chenga Rinchen ist unklar und es gibt einige Mutmaßungen, dass er sogar Chenga Sherab Jungne selbst sein könnte. Chenga Rinchens Kommentar ist nicht mehr vorhanden. Dorje Sherab auf der anderen Seite war ein Schüler von Kyobpa Rinpoche und Chenga Sherab Jungne. Sein Kommentar zum Gongchig, der als Dorshema bekannt ist, überdauerte bis zum heutigen Tag und ist momentan der älteste verfügbare Kommentar zum Gongchig (wahrscheinlich 1267 verfasst). Der Dorshema blieb bis zum heutigen Tag bei Schülern und Gelehrten des Gongchig populär. Ein anderer früher Kommentar zum Gongchig, der als der Rinjangma bekannt ist, wurde von Sherab Jungnes Bruder Rinchen Jangchub verfasst. Dieser Kommentar ging wahrscheinlich in der Zeit verloren, als Rigdzin Chökyi Drakpa (der erste Kyabgön Chungtsang, 1595-1659) seine Kommentare zum Gongchig verfasste, denn diese Kommentare zeigen keine Kenntnis des Rinjangma. Der Rinjangma wurde jedoch unlängst in Lhasa wiederentdeckt und kürzlich wieder veröffentlicht.
Laut Gyalwang Rinchen Phuntsok (dem siebzehnten Thronhalter der Drikung Kagyü, 1509-1557) verfasste auch Gardampa Shonnu Dorje (der erste Garchen Rinpoche, 1180-1240) einen Kommentar zum Gongchig, der als der Gargongma bekannt, aber unglücklicherweise nicht mehr vorhanden ist. Spätere Kommentare wurden von Chödrak Yeshe (dem vierten Rothut Karmapa, 1453-1524), Mikyö Dorje (dem achten Schwarzhut Karmapa, 1507-1554), Rigdzin Chökyi Drakpa (der zwei Kommentare schrieb, die als der längere Nyima Nangwa und der kürzere Munsel Drönme bekannt sind – beide sind heute weit verbreitet) und Chökyi Wangchuk (dem sechsten Rothut Karmapa, 1584-1635) verfasst. Offensichtlich wurden im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert keine Kommentare zum Gongchig verfasst. Im zwanzigsten Jahrhundert schrieb Thubten Chödrak, ein Nyingma-Schüler von Patrul Rinpoche (1808-1887), einen kurzen Kommentar, während der derzeitige Chöje Togden Rinpoche von Ladakh auch einen auf dem Dorshema basierenden Kommentar schrieb. Dagpo Chenga Rinpoche (Pseudonym Könchog Gyatso) hat auch einen modernen Kommentar zum Gongchig geschrieben. Seinem Kommentar sind interessante Essays über die Verbindungen und Beziehungen beigefügt, die er zwischen den Einsichten des Gongchigs und verschiedenen modernen Fragen wie zum Beispiel moderne Wissenschaft und Sozialismus sieht.
Das Herz des Gongchigs ist das Verständnis, dass alle Lehren der Buddhas, die Lehren, die bei den drei Drehungen des Dharma-Rades gegeben wurden, die Schulungen der Stufen des Hinayānas, Mahāyānas und Vajrayānas, die Sūtras und Tantras unvoreingenommen und frei von allen inneren Widersprüchen sind (Aussage 5.17). Keine Lehre ist besser als eine andere und alle sind nötig für die vollständige Beseitigung der hinzugefügten Verunreinigungen, die unsere Buddha-Natur verdecken. Alle Stufen des Pfades – ob Hinayāna, Mahāyāna oder Vajrayāna – haben das Aufgeben der zehn unheilsamen Handlungen als ihr gemeinsames wesentliches Merkmal (Aussage 1.24). Während einige behaupten mögen, dass durch die Pratimoksha-Gelübde der Hinayāna-Stufe nur die unheilsamen Handlungen des Körpers und der Sprache aufgegeben werden oder dass auf der Mahāyāna-Stufe die sieben unheilsamen Handlungen des Körpers und der Sprache ‚zugelassen’ sind, wenn sie den Wesen nützen, oder dass es im Vajrayāna ‚erlaubt’ ist, sich auf die neun unheilsamen Handlungen einzulassen, solange die unheilsame Handlung der Unwissenheit aufgegeben wird, weist der Gongchig diese Sichtweisen als schwerwiegende Missverständnisse der Lehren der Buddhas kategorisch zurück. Die Sichtweise, dass das Vajrayāna seinen Praktizierenden ‚erlaubt’ sich auf Handlungen einzulassen, die die anderen Yānas untersagen, war unglücklicherweise zu Kyobpa Rinpoches Zeit so weit verbreitet wie heute. Aber wir sollten uns eng an den Gongchig halten und versuchen, die Wahrheit der Vajra-Aussage ‚Was eine unheilsame Handlung im Vinaya ist, wird keine heilsame Handlung im Geheimen Mantra’ (Aussage 5.24) zu verstehen und zu verkörpern.
Obwohl es viele Lehren sind, nicht weniger als 84.000, sind sie alle in dem ‚Einzigen Ansinnen’ (Gongchig) der Buddhas vereinigt. Obwohl keine der Vajra-Aussagen im Gongchig direkt oder ausdrücklich sagt, was dieses ‚Einzige Ansinnen’ ist, erkannten Kommentatoren wie Rigdzin Chökyi Drakpa aus der ersten Vajra-Aussage („[Der Buddha] enthüllte die Bestehensweise der Natur und Erscheinung aller Phänomene.“) die Lehre des abhängigen Entstehens als das eine Prinzip, das dem gesamten Gongchig zu Grunde liegt. Diese Lehre ist in dem berühmten ‚Vers des Abhängigen Entstehens’ zusammengefasst:
Alle Phänomene entstehen aus Ursachen und Bedingungen,
folglich erläuterte der Tathāgata die Ursachen und Bedingungen.
Durch Ursachen und Bedingungen enden diese Phänomene.
dies hat der Große Asket gelehrt.
Außerdem ist diese Lehre des abhängigen Entstehens laut Nagārjuna in seinen ‚Wurzelversen über den Mittleren Weg’ nichts anderes als die tiefgründige Lehre der Leerheit. Die Wahrheit des abhängigen Entstehens zu verwirklichen, bedeutet, die Wahrheit der Leerheit zu verwirklichen und dies ist die einzige zu Grunde liegende Wahrheit, die durch die endgültige Weisheit aller Buddhas erkannt wird. Wenn die Buddhas die Wahrheit der Leerheit direkt erkennen, verstehen sie auch vollständig das komplexe abhängige Entstehen aller Phänomene. Wenn wir uns dieser einzigen Wahrheit aus der Perspektive des abhängigen Entstehens nähern, dann verstehen wir, dass alle Phänomene aufgrund von Ursachen und Bedingungen entstehen. Positive Handlungen erzeugen Glück, während negative Handlungen Leiden zur Folge haben. Die Natur des Selbst-Greifens ist immer Leiden, so wie die Natur des Feuers heiß und brennend ist. Gleichermaßen ist die Natur der Befreiung völliges Glück, so wie die Natur des Wassers nass und befeuchtend ist. Vielleicht ist es wegen dieser Betonung des abhängigen Entstehens, dass Kyobpa Rinpoche von Düsum Khyenpa (dem erste Schwarzhut Karmapa, 1110-1193) und dem berühmten indischen Abt Shākyashrībhadra (1127-1225, Sakya Panditas klösterlicher Präzeptor) als die ‚Inkarnation von Nagārjuna’, dem ‚Meister des Abhängigen Entstehens’, geehrt wurde.
Auf die Inhalte des Gongchig wird passend als ‚Vajra-Aussagen’ oder ‚dorje sung’ in Tibetisch verwiesen. Was im Deutschen als ‚Aussage’ übersetzt wird, ist die tibetische ehrende Form des Wortes, das wir normalerweise als ‚Sprache’ übersetzen. Indem die ehrende Form verwendet wird, macht die Tradition deutlich, dass der Gongchig nur Worte eines erleuchteten Wesens beinhaltet und nicht die eines gewöhnlichen Menschen. Was das ‚Vajra’ in ‚Vajra-Aussagen’ betrifft, erklärt Khenchen Könchog Gyaltsen Rinpoche dies wortgewandt in seiner Einführung zu Rigdzin Chökyi Drakpas ‚Nyima Nangwa Kommentar’ des Gongchigs:
„Weil (diese Aussagen) nicht von der endgültigen Natur des abhängigen Entstehens aller Phänomene getrennt werden können, werden sie ‚Vajra’ genannt;
weil sie sich nicht von jenem natürlichen Zustand zu etwas anderem abwenden können, werden sie ‚Vajra’ genannt;
weil es schwer ist, sie zum Objekt der intellektuellen Sphäre der Dialektiker zu machen, werden sie ‚Vajra’ genannt und
weil sie die Nicht-Verwirklichung, fehlerhaftes Denken und Zweifel, den großen Berg des unwissenden Irrtums, vollständig entwurzeln, werden sie ‚Vajra’ genannt.“
Zusammengefasst ist der Gongchig das einzigartige Erbe der Drikung Kagyü Linie, getreu und rein von Generation zu Generation übertragen, von Kyobpa Rinpoche bis auf jeden von uns heute. Über die Drikung Kagyü hinaus wird er als eine einzigartige Kagyü-Lehre betrachtet und hat Beachtung von den Kamtsang Kagyü Lamas erhalten. In seiner ganzen Geschichte hat der Gongchig sowohl Perioden des Wachstums und des Aufblühens (in seiner frühen Zeit und im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert) erfahren als auch Perioden des Niedergangs und des Ruhezustands (vom achtzehnten bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert). In unserer jetzigen Zeit, da sich die Drikung Kagyü Linie über das Land der Schneeberge hinaus im Rest der Welt verbreitet, erlebt der Gongchig langsam aber sicher wieder einmal eine Renaissance. Unter der Führung und dem Schutz der beiden Thronhalter der Glorreichen Drikung Kagyü Linie – Seine Heiligkeit, der Drikung Kyabgön Chetsang und Seine Heiligkeit, der Drikung Kyabgön Chungtsang – studieren, meistern und verbreiten wieder viele große Khenpos, Lamas und Praktizierende der Drikung Kagyü die Gongchig-Lehren. Viele Drikung Kagyü Praktizierende erkennen jetzt die Wahrheit der Worte des verstorbenen Vajradhara Khyungka Rinpoche, der Heruka in seinem Leben verwirklichte, dass wir schon zu lange „das Messing der anderen begehren, während wir unser eigenes Gold wegwerfen.“
Geschrieben von Könchog Yedor in der Drikung Dharmakirti Hermitage, Asheville, North Carolina im Dezember 2002 zur ersten Gongchig-Unterweisung, die Khenpo Tsultrim Tenzin im Tibetan Meditation Center Winter Retreat gab. Revidiert und aktualisiert im März 2006.
Übersetzung ins Deutsche von Heinz-Werner Goertz
Einführung und Unterweisungen zum Gongchig im Zentrum
Wir haben das Glück, dass wir in unserem Veranstaltungsprogramm zwei Seminare anbieten können, in denen uns der Gongchig nähergebracht wird.
Zunächst wird am Samstag, 18.6., Prof. Dr. Jan-Ulrich Sobisch, der sich seit vielen Jahren mit dem Gongchig und den zugehörigen Kommentaren beschäftigt, eine Einführung in den Text geben. Dabei beleuchtet er sowohl den geschichtlichen Hintergrund als auch inhaltliche Aussagen. (siehe hier)
Khenchen Könchog Gyaltsen Rinpoche, der als ausgesprochener Kenner des Gongchig gilt, wird dann am 23. und 24. Juli Unterweisungen zu den Vajra-Aussagen von Kyobpa Jigten Sumgön geben. (siehe hier)