HH alleine

Welch‘ Segen, welche Kraft!

Eine buddhistische Pilgerreise durchs unglaubliche Indien

Indien – bunt, laut, schmutzig, voller Menschen und Tiere. Bettler, Mönche, Hindus, streunende Hunde, bettelnde Kinder. Einen Steinwurf weiter Reichtum, Pracht und Gold.

Die Buddhastatue ist aus kostbarem, schimmerndem Gold, verziert mit einem Strahlenkranz aus diamantgleich funkelnden Edelsteinen. Erhabene Ruhe ausstrahlend, Liebe verströmend. Mir kommen die Tränen, dabei stehe ich doch mit gefalteten Händen im Gewühl von vielen Gläubigen. Alles hier atmet Heiligkeit und Würde. Ein Duft von Hingabe, Liebe und Mitgefühl ist da.

Bodhgaya, ein starker Ort, vielleicht bereits der stärkste, obwohl meine Pilgerreise erst anfängt. In den nächsten 12 Tagen werden wir neun heilige Stätten aus dem Leben des Buddha besuchen. Meine Pilgerreise wurde fix und fertig organisiert vom Drikung Atisha Center in Indonesien. 500 Nonnen und Mönche sind mitgepilgert. Und gekrönt wurde die Reise durch die Führung Seiner Heiligkeit, des Drikung Kyabgön Chetsang.

Pilgern, was soll das überhaupt?
Ja, wozu mache ich so etwas? Vor 15 Jahren, nach meiner Zufluchtnahme, habe ich es meinem Lehrer, Sonam Jorphel Rinpoche, versprochen: „Ja, ich werde eine pilgrimage unternehmen.“ Bisher habe ich mich nur auf den Jakobsweg getraut. Spanien, das ist noch Europa, noch fast ‚daheim‘.

Aber Bodhgaya, Nalanda, Rajgir, Vaishali, Kushinagar, Sarnath, Shravasti und Lumbini klingen in mir wie magische Namen für weit entfernte Orte in einem Land, dessen Bewohner mir fremd sind. Es ist hier alles so voller Menschen, die ich nicht verstehen, nicht ‚lesen‘ kann. Und sind da nicht auch überall verborgene Gefahren, gefährliche Krankheiten, Schlangen gar, untrinkbares Wasser ohnehin? Nun also stürze ich mich im Schutz der Gruppe – denn zusätzlich zu den Ordinierten sind noch 150 Laien aus aller Welt mit dabei – ins Wagnis der Pilgerfahrt. Ich pilgere mit und bin jetzt schon völlig glücklich.

Welch‘ Segen, welche Kraft!
Hier in Bodhgaya unter dem Bodhibaum erlangte Prinz Siddhartha die Erleuchtung und wurde zum Buddha. Deshalb bin nicht nur ich hier, deshalb sind wir alle hier. Auf der Suche nach Erleuchtung. Zur Stärkung unserer Praxis, unseres Vertrauens und unserer Hingabe. Vielleicht auch weil ich Hilfe brauche, da ich nicht alle meine Schwierigkeiten im Leben allein oder auf materielle Weise lösen und schon gar nicht die Erleuchtung erlangen kann. Dabei ist sie doch nur hinter dem Vorhang der afflictive emotions verborgen.

Die Vier Edlen Wahrheiten (vom Leiden, der Ursache, der Beendigung und dem Pfad zur Beendigung des Leidens) sind der Ausgangspunkt der Lehre des Buddha. Das wird hier deutlich spürbar. „Nimm‘ sie an!“, so bete ich, „Nimm‘ diese einmalige Pilgerreise an! Mach‘ sie zu Deinem Pfad und lass‘ Deine Kraft und Motivation an ihr wachsen.“

Von Bodhgaya ist es nicht weit bis Nalanda
Nalanda war seinerzeit die größte Dharma-Universität der Welt mit mehr als 10.000 Studenten. Unter einem Baum mit weit ausladenden Ästen versammeln wir – Nonnen, Mönche, Laien – uns, um mit Seiner Heiligkeit das Herz-Sutra zu rezitieren. Elen, unsere Organisatorin hat ein Gebetsbuch zusammengestellt, das uns hilft und begleitet. So können wir mitlesen, während die Ordinierten aus dem Gedächtnis rezitieren. Dann wird’s magisch: Seine Heiligkeit singt das OM MANI PADME HUNG/ HRI in acht Melodien: ein achtblättriger Lotus als Klang. Wir fallen ein, wir chanten und singen mit. Gänsehautmoment.

Ein schönes Bild, all die weinroten Roben im warmen Licht des späten Nachmittags
So eingestimmt fahren wir nach Rajgir. In 30 min. ist der Geierberg, wo der Buddha das Herz-Sutra gelehrt hat, erklommen. Oben sitzt schon eine Gruppe japanischer Pilger. Mit uns wird es dann richtig voll. Überall Nonnen und Mönche aller Altersklassen. Die jüngsten sind aus Bhutan und gerade mal sechs oder sieben Jahre alt. Ein schönes Bild, all die weinroten Roben im warmen Licht des späten Nachmittags. Der Sonnenuntergang beginnt; und auch wir rezitieren Gebete. Ich kenne den Text nicht und meditiere. Ich atme den spirit des Ortes ein und aus. Ich nehme den Klang, die sanfte Brise, die angenehme Wärme wahr und spüre, wie ich weich werde, ganz weich, und verweile wie in Samt. Ich bin Samt.

Wieder am Fuß des Berges angekommen, erleben wir das volle Kontrastprogramm: Fliegende Händler, mit ‚Läden‘, die auf den Gepäckträger eines Fahrrades passen. Bettelnde Frauen und Kinder, viele verkrüppelte oder verstümmelte Menschen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ein unverschämter Affe klaut mir eine Mandarine aus der Plastiktüte. Irgendwoher gibt es einen Masala-Tea. Staub wirbelt in der Abendsonne. Ich wäre so gern einfach oben sitzen geblieben!

In der Mahakala-Höhle
Am nächsten Tag besuchen wir die Mahakala-Höhle (Pragbodhi Cave). Dafür haben wir Laien alle ein dunkelblaues T-Shirt mit einem goldenen HUNG auf der Brust bekommen – wo sich das Herzchakra befindet. Wieder geht es erst bergauf. Wer Schwierigkeiten beim Steigen hat, kann sich eine Sänfte mieten und wird von zwei Trägern zwischen zwei Bambusstangen sanft hinaufgeschaukelt.

Oben herrscht wieder indisches Gedränge. Es gibt wenig Platz. Wir sind zwar mit Abstand die größte Gruppe, aber bei weitem nicht die einzige. In die Höhle muss man fast hineinkriechen, so niedrig ist der Eingang. Drinnen empfängt uns eine Statue des bis auf die Knochen abgemagerten Buddha. Alle Rippen kann man zählen. Elen hat Goldfolie für uns bereitgehalten, die wir auf den Wänden anbringen. Manchem klebt sie am Finger fest oder der Wind holt sich das zarte Blattgold.

Es ist wuselig und eng und doch zugleich ruhig und würdevoll. Die Mönche zelebrieren eine Puja. Der Umze (Vorsänger) beginnt mit seinem kräftigen Bass. Alle fallen ein. Zuvor hatten unsere fleißigen Helfer einen Altar aufgebaut, der über und über mit Tormas, Blumen, Obst, ‚unserer‘ großen Buddha-Statue, vielen kleinen Mahakala-Statuen und weiteren Opfergaben geschmückt ist. Ich fühle die Kraft der Gebete, die Gläubige hier seit Jahrhunderten verrichtet haben, und opfere auch eine Butterlampe. Zwar vergesse ich das zugehörige Gebet: „Das Vertreiben der Dunkelheit der Unwissenheit“. Dafür weiß ich jetzt, dass es dazugehört. So erweitert und festigt sich meine Praxis, was mich doch sehr freut.

Wir sind in einem wunderbar bereichernden Mandala und befruchten, stärken und inspirieren uns gegenseitig. Und ich spüre: Alle sind miteinander in Liebe und Mitgefühl verbunden, ebenso wie im Irren und Wirren. Das ist nicht neu und auch nicht exklusiv buddhistisch. Gleichwohl ist die tiefe Erfahrung davon mir wichtig. Und schön! Etwas Besonderes! Bereicherndes!

Kurz hinter Patna, plötzlich der Ganges.
Auch die Fahrten im Bus durch Bihar finde ich voll spannend. Ich kann nicht dösen, sondern muss ständig schauen. Bihar ist der ärmste Bundesstaat Indiens mit mehr als 100 Mio. Einwohnern. Sehr ländlich. Kleine grüne Felder, ab und an auch gelbe: Ist das Senf oder Raps? Ich sehe die Frauen bei der Feldarbeit; Maschinen so gut wie gar nicht.

Kurz hinter der Stadt Patna, plötzlich der Ganges. Heiliger Fluss, mächtig, träge dahinfließend in einem riesigen Flussbett mit breiten Sandbänken. Zur Regenzeit tritt das Wasser oft über die Ufer, jetzt im Februar ist der Stand niedrig. Wir fahren bequem über eine lange Brücke. Der Buddha hat damals mit einer Fähre übergesetzt und ist zu Fuß weitergewandert.

In Vaishali sehen wir Ruinen von Stupas und Tempeln und eine der zahlreichen Säulen, die König Ashoka zum Zeichen errichten ließ: Hier war der Erleuchtete. Hier wurde auch die erste Frau ordiniert und somit der Frauenorden gegründet, nicht ganz freiwillig, sondern auf erst vielfache Bitten hin.

Unweit liegt Kushinagar, wo wir den Eintritt des Bhagavan ins Parinirvana feiern. In Gruppen halten wir je ein großes, leuchtend orangenes Leichentuch, das wir auf den in einer Stupa liegenden Buddha breiten. Die Mönche führen eine Puja durch. Ein großer Baum, unter dem sie sitzen können, findet sich allerorten. Schnell lasse ich meine Mala und das Gebetsbuch segnen und meditiere am Kopfende. Ich fühle Buddhas Güte, seinen Segen, seine Allwissenheit in mich einströmen. Wie glücklich kann man werden? Kann ich noch glücklicher sein?

Incredible India
Weiter geht’s nach Sarnath in Varanasi. Von den berühmten Ghats am Ganges bekommen wir leider nichts mit. Wir sind ja buddhistisch unterwegs und wenden uns dem Platz der ersten Lehrrede zu. In ihr teilte der Erhabene den fünf Gefährten aus der Zeit seiner Askese nun seine neu gewonnene Erkenntnis mit: Die vier edlen Wahrheiten und den mittleren Weg.

In Varanasi habe ich mein erstes indisches Großstadterlebnis. Ich werde voll absorbiert vom Krach, Verkehr, Lichtern, Dreck, Bettlern, Kindern in Schuluniformen und Straßenhändlern. Dazwischen immer wieder eine Kuh am Straßenrand. Wahrhaft megaviele Sinneseindrücke überfordern mich. Gar kein Vergleich zu Bodhgaya. Das hier ist mir viel zu viel. Und jetzt noch zwei Gruppenfotos mit Seiner Heiligkeit. Mehr als 500 Personen auf einem Bild! Kann das gutgehen? Mit raubt’s die Nerven. Ich bin heilfroh, nach dem Lunch wieder im Bus zu sitzen und mit Ulla das Herz-Sutra zu rezitieren. Also, indische Millionenstädte – ich weiß nicht – sind mit Vorsicht zu genießen. Oder wie heißt es so schön in der Werbung: Incredible India.

Pilgern und Praxis
Pilgern stärkt meine Praxis, vergrößert meine Hingabe und vertieft mein Vertrauen. Es ist schön, die Orte zu kennen, die in den Schriften vorkommen. Ich stelle mir vor, wie der Buddha hier lebte: In der Hauslosigkeit, nur mit seiner Bettelschale, barfuß unterwegs. Wie hat er Wasser mitgenommen? … Wir sind prima versorgt, drei Mahlzeiten am Tag und manchmal noch eine kurze Teepause am Straßenrand. Serviert wird der leicht süße Tee in kleinen Tonbechern, was ich als sehr umweltschonend empfinde. Allerdings halten auch hier langsam die Pappbecher Einzug.

In Shravasti hat Seine Heiligkeit vor einigen Jahren ein neues Kloster mit großem Innenhof bauen lassen. An diesem Ort verbrachte der Buddha 25 Regenzeiten mit seiner Sangha. Der Jetavana-Hain kommt mir unverändert vor, so deutlich spüre ich die Gegenwart des Tathāgata.

Nach Einbruch der Dunkelheit lassen wir weiße Lampions steigen. Es ist ein Moment, den ich festhalten möchte. Wir alle werden zu fröhlichen Kindern. Hunderte Ballons steigen still und majestätisch in den schwarzen Nachthimmel und tragen unsere guten Wünsche weiter. Magisch.

Von Shravasti nach Lumbini
Von Shravasti geht es zum letzten Ort, dem Geburtsort des Buddha, nach Lumbini. Unterwegs liegt heute die Grenze zwischen Indien und Nepal. Mit einer so großen Gruppe braucht es an der Grenze so seine Zeit. Dafür haben wir in Lumbini ein formidables nagelneues Hotel, fast zu nobel für eine Pilgerreise.

Zum letzten Mal versammeln wir uns beim Maha Bodhi Tempel unter einem Baum und lauschen Seiner Heiligkeit. Wir meditieren zusammen das Gewahrsein auf den Atem, einfach unglaublich kraftvoll, friedlich, trotz der vielen Menschen und chantings um uns herum.

Bitte Tara, Achi helft mir dabei, dass ich und alle anderen diesen Frieden auch im Inneren finden mögen!

Elisabeth Kolb
(Copyright Fotos: Elisabeth Kolb u.a.)