Khenchen

Die Gegebenheit vom Bejahten und Verneinten


von Khenchen Könchog Gyaltsen Rinpoche

Om Swasti. – Möge alles Heilsam sein!

Sie beherrschen die Sphäre der Wissensobjekte,
sind die Verkörperung des Mitgefühls, die Vertrauten der Umherziehenden
und zeigen einwandfrei, was anzunehmen und was abzulehnen ist –
Voller Wertschätzung verehre ich die spirituellen Lehrer.

Euch vom Glück Begünstigten, die sich unermüdlich dem Dharma zuwenden,
und deren Pforte der Vernunft weit geöffnet ist, möchte ich in dieser Form
Anleitungen über das geben, was auf der natürlichen Grundlage
von Ursache und Wirkung zu unterlassen und umzusetzen ist.

Dank der ausgezeichneten Basis der acht Freiheiten und zehn Ausstattungen
sind wir fähig, die unübertreffliche Erleuchtung zu erlangen.
Denkt also in Sinnbildern und so fort 1 über den Nutzen des schwer zu Erlangenden nach.
Wendet euch von nun an der Essenz (des Dharma) zu.

All diese Phänomene, Erscheinendes und Bestehendes,
sind Objekte, die augenblicklich verfallen. Das bedeutet:
Alle, die anderen und wir selbst, sind nicht beständig.
Verfolgt daher tatkräftig den unwandelbaren wahren Dharma!

Alle Objekte, die als Glück und Leid erscheinen,
entspringen der grundlegenden Natur, dem unfehlbaren karmischen Gesetz.
Begeht folglich mit Hilfe des vollkommen makellosen geistigen Auges
keine Fehler im Hinblick auf das, was aufzugeben und was anzunehmen ist!

Hier in der Sphäre des Samsara, der drei Bereiche,
kommt niemand, ob hochgestellt oder niedrig, stark oder schwach, gelehrt oder dumm,
über das Gebiet des Leids hinaus.
Widmet euch daher tatkräftig dem unbefleckten wahren Dharma!

Buddha, Dharma und Sangha
sind allesamt die unwandelbare, beständige Zufluchtstätte.
Ihr, die ihr die Befreiung von den Abgründen des Leids ersehnt
verfolgt also tatkräftig, von ganzem Herzen, den Sinn der Zufluchtnahme!

Ethisches Verhalten, das ist die Ursache, die das Erreichen
einer höheren Wiedergeburt und des letztendlich Guten bewirkt.
Beschäftigt euch aus diesem Grund vorrangig mit der Sphäre des Vinaya2,
dem Aufgeben der zehn unheilsamen Handlungen!

Das gesamte eigene Glück ist aufgrund von anderen zustande gekommen.
Der Wunsch nach dem Wohlergehen der anderen ist die Ursache für eigenes Glück.
Aus diesem Grund widmet euch entschlossen vollends den Vier Unermesslichen,
der liebevollen Güte, Mitgefühl und so fort.

Jegliches Glück und jegliche Freude im Samsara und im Nirvana
sowie das Erreichen der Buddhaschaft werden von einer einzigen Ursache herbeigeführt –
Es ist der Erleuchtungsgeist.
Bringt ihn aus diesem Grund mit Entschlossenheit in eurem Bewusstseinsstrom hervor.

Mit der wünschenden und ausführenden Geisteshaltung,
mit dem unübertrefflichen, absoluten Erleuchtungsgeist
stets das Pferd der Tatkraft reitend,
verbleibt auf dem Pfad der Vollendung!

Mit Sesamöl in Sesamsamen vergleichbar
ist das Herz der Sugata die heilsame Essenz.
Diese natürliche Grundlage – frei von Minderung oder Mehrung –
durchdringt alle fühlenden Wesen in den sechs Bereichen.

Also ist der eigene Geist tatsächlich Buddha
gleichwohl oberflächlich durch Befleckung verschleiert.
Zur Beseitigung der Befleckung hat der Buddha
all die vielen Formen von Zusammenstellungen des Dharma gelehrt.

Da es auf dem Pfad der Reife und der Befreiung
viele Methoden ohne Beschwerlichkeiten gibt
und da ihr wünscht die Buddhaschaft schnell zu erlangen,
stützt euch auf den Mantra-Pfad!

Indem ihr euch die Selbstverkörperung des Erleuchtungsgeistes, die Gestalt der Gottheit
gänzlich unabgelenkt vergegenwärtigt,
möget ihr der Bedeutung der klaren, reinen und stabilen Entwicklungsstufe,
dem vollständig Erwiesenen, der Gottheit, von Angesicht zu Angesicht begegnen.

Kraft des Yoga der tiefgründigen und subtilen Tropfen
und der Vollendungsstufe ohne Merkmale
werden in der Weite der großen Glückseligkeit, des Dharmadhatu
ausnahmslos alle verbliebenen Verschleierungen geläutert.

Um alle Umherziehenden zum Pfad des höchsten Fahrzeugs zu führen,
erscheint die lebhafte Selbstverkörperung der Buddha-Aktivitäten
aller Buddhas der drei Zeiten
in der Gestalt der Wurzel- und Linien-Gurus.

Sie sind vollkommen von Anhaftung an das eigene Wohlergehen befreit,
sie vertreiben mit Mitgefühl das Leid der anderen und
leiten sie mit großer Weisheit auf dem Pfad an.
Halte dich an die Verkörperung der Schriften und Erkenntnisse – die spirituellen Lehrer.

Begierde, Hass und Verblendung –
das aus diesen Entstandene ist unheilsam.
Es ist allgemein gesprochen das Leid vom Samsara
und insbesondere das Leid der drei niederen Bereiche.

Dessen Ursachen und Bedingungen sowie das aus ihnen Entspringende werden
in den Samaya der Selbstbefreiung, des Erleuchtungsgeistes und des geheimen Mantra
an keiner Stelle bejaht.
Von daher ist alles Verneinte von jeher verneint.

Begierdelosigkeit, Hasslosigkeit und Verblendungslosigkeit –
aus diesen Entstandenes ist heilsam.
Das heißt, diesen entspringen alle Formen
des Glücks im Samsara und im Nirvana.

In allen Samaya der Selbstbefreiung, des Erleuchtungsgeistes und des geheimen Mantra
ist das Bejahte widerspruchsfrei, von daher wird es von jeher bejaht,
Was die Bestehensweise von heilsam und unheilsam betrifft,
gibt es keinen Ort, an dem das eine das andere wäre.

Wie viele verschiedene Formen von Erscheinungen es auch geben mag,
sie tauchen ausschließlich als Spiel des Geistes auf:
Die Natur des ungeborenes Geistes ist das Tschag,
der Eine Geschmack vom Samsara und Nirvana ist das Gya der Phänomene 3.

Erscheinungen und Geist sind dem unfehlbaren karmischen Gesetz (unterworfen).
Das bedeutet, die allwissende ursprüngliche Weisheit
basiert gleichermaßen auf Ursachen und folgt ihnen nach.
Folglich ist der Kern von Mahamudra und von ethischem Verhalten der gleiche.

Alle Phänomene sind abhängig entstanden.
Abhängiges Entstehen ist Leerheit.
Diese Gegebenheit des Freiseins von Auflösung und Bestand,
ist die grundlegende Natur oder Anlage: die (Einheit von) Klarheit und Leerheit.

Ist die Leerheit verwirklicht, erheben sich in der Leerheit
jeweilig unverkennbar Ursachen und deren Wirkungen.
Ausgehend von der Beschaffenheit der Natur vom Samsara und vom Nirvana
werden Ursachen und Wirkungen in ihrer Vielheit klar und deutlich erkannt4.

Die so gelehrte Sphäre dessen, was anzunehmen und abzulehnen ist,
ist die Wurzel der Lebenskraft der drei Dharma-Räder
des Muni, des vollendeten Buddha
sie ist das Herz aller Sutra und Tantra.

Die Grenzlinie zwischen zu Unterlassendem und Umzusetzendem
ist es, was Samsara und Nirvana klar trennt.
Sie ist die höchste Methode, um Negativitäten und Fehler zu beseitigen.
Sie ist die Leiter zu den höheren Bereichen und zur Befreiung.

Diese Lehre des Beschützers Shakyamuni
Ist sie nicht wunderbar, erstaunlich, großartig?
Euch, die ihr das Glück besitzt, den Dharma zu praktizieren,
bitte ich, setzt ihre Bedeutung gleichfalls entschlossen in die Praxis um!

Auf diese Art seid ihr Vernunftbegabten,
großartige Wesen, die die Lehre halten,
die wirklich großartigen Führenden der Wesen,
die Nachfolger des Löwen des Shakya.

Sollten sich hier Fehler angesammelt haben,
bekenne ich sie in der Gegenwart der Siegreichen und ihrer Kinder.
Jedoch schrieb ich (alles) nieder, ohne es mit eigenen Schöpfungen zu verunstalten,
indem ich mich auf die ausgezeichnete, reine Lehre des Buddha stützte.

Mögen durch alle Formen des Heilsamen, angefangen bei dieser,
alle Umherziehenden, unsere Mütter,
von den zwei Verschleierungen bereinigt werden sowie die zwei Ansammlungen (vollenden)
und kraft dessen die Ebene des Nicht-Verweilens erreichen!

Mit aufkommender Freude und Staunen erblickte ich nur ein wenig der unverfälschten Art und Weise der entscheidenden Punkte der Lehre von den drei Schulungen in den kostbaren Lehren der Schriften und Verwirklichungen des Siegreichen über das, was zu unterlassen und umzusetzen ist. Ich, der Vagabund, Khenchen Könchog Gyaltshen genannt, verfasste dies spontan am 4. Juli 2008 in Drikung Denshe Ling, Deutschland. Möge sich Heilsames und Glück in allen Richtungen ausbreiten!

Übersetzung aus dem Tibetischen, gestützt auf die englische Fassung von Claude Jürgens
Samtenling, Dehra Dun, 2. Januar 2010

Die Fußnoten wurden in Anlehnung an die englische Übersetzung beigefügt.

 

 

Bitte um Unterstützung für Claudes Tibetischstudium

Ergänzend zu Claudes Übersetzung (s.o.) und ihrem Bericht möchten wir um Unterstützung für ihre weiteren Studien bitten. Bislang gibt es nur wenige Tibetisch-Übersetzer und daher hat dies sicher einen großen Nutzen für die Zukunft. Claude ist auf die Förderung durch Einzelpersonen angewiesen, da derzeit keine Institution die Ausbildung unterstützt.

In Übereinstimmung mit unserer Satzung können wir Spenden über das Zentrum sammeln. Jeder Beitrag ist willkommen. Vielleicht kann auch der ein oder andere eine regelmäßige Unterstützung einrichten, bis Claude ihre Studien abgeschlossen hat. Bei Überweisungen kann man als Verwendungszweck: „Studienbeihilfe Claude“ angeben und wenn man einen Umschlag in die Spendenbox des Zentrums wirft, schreibt man einfach „für Claude“ darauf, so dass wir es entsprechend buchen und weiterleiten können.

Ani Elke und Christian

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1 Es gibt vier Methoden mittels derer die Schwierigkeiten der Erlangung des kostbaren menschlichen Körpers gelehrt werden: 1) Sinnbild (tib.: dpe) – Die Unwahrscheinlichkeit, dass eine Schildkröte ihren Kopf durch ein treibendes Joch steckt; 2) Ursache (tib.: rgyu) – Wie Heilsames und Unheilsames zu den verschiedenen Wiedergeburten führt; 3) Anzahl (tib.: grangs) – Beispiele zum Vergleich der Anzahl der Wesen in den verschiedenen Bereichen: Die Tiere in den großen Weltmeeren sind beispielsweise so zahlreich, wie vergorene Körner für die Herstellung von bestem Gerstenbier; 4) Eigenheit (tib.: ngo bo) – Die direkte Beschreibung dessen, was das kostbare menschliche Leben mit sich bringt. Dies alles ist in den Schriften der Linie zu finden; z.B. in Kapitel drei der "Stufenweisen Aneignung der Lehren des Buddha" von Phagmodrupa (Otter-Verlag) und Kapitel zwei des "Kostbaren Schmucks der Befreiung" von Gampopa (verschiedene deutsche Übersetzungen, z.B. Norbu Verlag).

2 "Sich vorrangig mit der Sphäre des Vinaya zu beschäftigen" heißt, eine der Kategorien von Vinaya-Gelübden zu nehmen und zu halten: 1) Laiengelübde (tib.: dge bsnyen) mit fünf Gelübden; 2) Novizenordination (tib.: dge tshul) mit zehn Gelübden und 3) Vollordination (tib.: dge slong) mit zahlreichen Gelübden. Detaillierte Informationen sind in Kapitel sieben der "Stufenweisen Aneignung der Lehren des Buddha" von Phagmodrupa zu finden.

3 Tschag (tib.: phyag) und Gya (tib.: grya) sind die tibetischen Silben für das Sanskrit-Wort "Mudra" in Mahamudra (tib.: phyag rgya chen po, sprich: tschag gya tschenpo). Tschag bezieht sich auf "die Weisheit der Leerheit" und Gya auf "das Siegel der Leerheit".

4 Dies bezieht sich auf die zweifache ursprüngliche Weisheit der Buddhaschaft: die ursprüngliche Weisheit des Wissens um die Dharma-Natur (Dharmata, Natur der Phänomene), wie sie wirklich ist (tib. chos nyid ji lta ba mkhyen pa’i ye shes) und die ursprüngliche Weisheit des Wissens um die einzelnen Dharmas (Dharmin, Phänomene) in ihrer Vielfalt (tib. chos can ji snyed pa mkhyen pa’i ye shes).