Alle Worte des Buddha und alle Kommentare buddhistischer Meister zielen darauf, Weisheit und Mitgefühl der Lebewesen zu entwickeln. Dabei wird die Entfaltung des Mitgefühls für den Eintritt ins Große Fahrzeug als wesentlich angesehen, da dort das Wohl der anderen im Mittelpunkt steht.
Buddhistische Anleitungen zeigen ihren vollen Nutzen, wenn sie sich auch im alltäglichen Leben auswirken. So bemisst sich der „Erfolg“ einer Übung, die Mitgefühl anstrebt, daran, inwieweit jemand eine altruistische Verhaltensweise auch in schwierigen Zeiten beibehalten kann. Diesem Ideal kann man sich sicherlich nur stufenweise annähern, sind doch unsere egoistischen Einstellungen im privaten wie im gesellschaftlichen Kontext vorherrschend und werden allgemein akzeptiert. Die Übungen zum Wohle der anderen, das Entwickeln von Bodhicitta, werden langfristig gesehen als die wichtigsten, wenn auch als die schwierigsten betrachtet, weil es ein radikales Umdenken erfordert: nicht ich, sondern die anderen stehen im Mittelpunkt des Denkens und Handelns.
Die „Sieben Punkte der Geistesübung“ des Kadampa-Meisters Chekawa Yeshe Dorje ist eine Schrift, auf die sich die Kommentatoren aller Schulrichtungen des tibetischen Buddhismus vorwiegend beziehen, wenn sie ihre Schüler altruistisches Verhalten lehren. Der in die deutsche Sprache übersetzte Kommentar des großen Jamgon Kongtrul, der in der unruhigen Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Ost-Tibet lebte, verdeutlicht klar und direkt die Dringlichkeit einer solchen Praxis für die heutige Zeit. Seine Erläuterungen der kurzen Merksätze des Wurzeltextes lassen sich vor allem auf alltägliche Situationen anwenden.
Jamgon Kongtrul gehört zu den bedeutendsten Gelehrten Tibets, der vor allem auf den Gebieten der Religion, Erziehung, Medizin und Politik wertvolle Beiträge hinterlassen hat, weswegen man ihn aus westlicher Perspektive auch als „Tibetischen Leonardo“ bezeichnen kann. Aufgewachsen in einer Familie, die der alten Religion Tibets, dem Bön, angehörte, kam er schon in jungen Jahren in Berührung mit buddhistischen klösterlichen Institutionen zunächst der Nyingma-, dann der Kagyü-Tradition. All seine vielfältigen Aktivitäten zeichnet stets eine traditionsübergreifende Weite aus.
Einführung des Übersetzers
Nach der Zeit der Unterdrückung durch König Langdarma organisierte sich der Buddhismus in Tibet im elften Jahrhundert neu. In jenen Jahren herrschte reges Interesse an den Lehren Buddhas. Zahlreiche Tibeter unternahmen die lange, gefährliche Reise nach Indien, um bei buddhistischen Meistern zu lernen, und die tibetischen Könige und Regenten luden indische Lehrer nach Tibet ein. Unter diesen Lehrern befand sich Atisha, einer der führenden Meister seiner Zeit. Rinchen Sangpo, bekannt als der „große Übersetzer“, hatte ihn wiederholt – aus eigenem Antrieb und auch als Repräsentant der Könige Westtibets – eingeladen. 1042 endlich nahm Atisha die Einladung an.
Atisha arbeitete in Tibet daran, eine rechte Sichtweise und ein richtiges Verständnis der spirituellen Praxis aufzubauen, indem er eine Synthese dreier Linien des indischen Buddhismus lehrte: der Linie der „Tiefgründigen Philosophie“, die auf Buddha Shakyamuni zurückgeht und die von Nagarjuna, inspiriert durch den Bodhisattva Manjugosha, gelehrt wurde; der Linie der „Unermesslichen Aktivität“, die ebenfalls von Buddha Shakyamuni herrührt und von Asanga, der Inspiration von Maitreya erfuhr, gelehrt wurde; und der Übertragung des „Segens und der Praxis“ von Buddha Vajradhara, die Tilopa übermittelte. Bei Atishas Darlegungen spielten Zuflucht und Bodhicitta eine zentrale Rolle. Sein Beharren auf der Zuflucht als dem Fundament jeder Dharma-Praxis brachte ihm den Beinamen „Zufluchtlehrer“ ein.
Schon früh in seinem Leben hatte Atisha zahlreiche Visionen und Träume, die einhellig die Unabdingbarkeit von Bodhicitta für die Erlangung der Buddhaschaft herausstellten. Es fügte sich, dass er sich auf eine lange Seereise nach Indonesien einschiffte, wo er Serlingpa traf, der ihn die Geistesübung nach der Mahayana-Tradition lehrte. Bei diesem System wird die Art und Weise, Alltagssituationen zu erfahren, so weit umgewandelt, bis man sie wie ein Bodhisattva erlebt. Serlingpa verfasste selbst Texte über diese Methode, und einer seiner Texte ist in das Werk Jamgon Kongtruls mit eingeflossen.
Atisha gab die Lehren an seinen engsten Schüler, Drom-tön Rinpoche, den Begründer der Kadampa-Linie, weiter. Anfangs wurden sie nicht sehr ausgiebig gelehrt und fanden erst durch den Kadampa-Meister Chekawa Yeshe Dorje (1102-1176) größere Verbreitung. Chekawa selbst hatte sie durch einen Zufall kennen gelernt. Während er bei einem Freund zu Besuch war, sah er ein geöffnetes Buch auf dessen Bett und las die Zeilen:
Überlasse die Siege den anderen,
nimm die Niederlagen auf dich.
Durch diese ungewöhnlichen Gedanken neugierig geworden, fragte er nach dem Autor und erfuhr, dass die Zeilen, die er gelesen hatte, aus den „Acht Versen der Geistesübung“ von Langri-tangpa (1054-1123) stammten. Obwohl Langri-tangpa bereits gestorben war, gelang es Chekawa, einen anderen Kadampa-Lehrer namens Sharawa zu finden, der diese Übertragung ebenfalls erhalten hatte. Zwölf Jahre lang studierte und praktizierte Chekawa die Geistesübung und fasste die Lehren in dem Text „Die Sieben Punkte der Geistesübung“ zusammen. Später wurden die Lehren weithin verbreitet, und viele Meister fühlten sich inspiriert oder wurden von ihren Schülern dazu gedrängt, etwas zu diesem Thema zu schreiben. Jamgon Kongtrul Lodrö Thaye (1813-1899) war einer dieser Meister. Als einer der führenden Köpfe der religiösen Erneuerung im Osttibet des neunzehnten Jahrhundert nahm er vermutlich die Gelegenheit gerne wahr, über eine so hoch angesehene Lehre zu schreiben, die zu seiner Zeit bereits in alle buddhistischen Schulen Tibets Eingang gefunden hatte.
Kongtrul war in die Bön-Tradition hineingeboren und in ihr aufgewachsen. Schon in jungen Jahren erwarb er sich eine gründliche Kenntnis dieser Religion, denn sein Vater war ein Bön-Priester. Von den politischen Wirren seines Heimatlandes fortgespült, fand Kongtrul noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahr den Weg zu dem Kagyüpa-Kloster Pepung in Osttibet. Seine überragende Auffassungsgabe erregte die Aufmerksamkeit von Situ Pema Nyinje, dem höchsten Kagyüpa-Lehrer in Pepung. Unter seiner Obhut machte Kongtrul sowohl spirituell als auch intellektuell rasche Fortschritte und wurde schon Mitte zwanzig ein Lehrer, dem man große Beachtung zollte. Sein späterer Einfluss auf den Buddhismus war enorm.
Der Text stammt aus den „gDams.ngag.mdsod“, einer von Kongtrul zusammengetragenen Sammlung von Lehren, die die wesentlichen Übungen jeder tibetisch-buddhistischen Schule enthalten. Diese Sammlung ist eines der fünf Hauptwerke Kongtruls. Als die „Fünf Schätze“ bekannt, enthält es die gesamte tibetische Gelehrsamkeit und stellt einen der größten Beiträge zur religiösen Wiederbelebung Osttibets, der Rime-Bewegung, dar.
Diese Bewegung wurde im neunzehnten Jahrhundert von einer Anzahl großer Lehrer ins Leben gerufen: Jamgon Kongtrul, Jamyang Khyentse Wangpo, Dza Patrul Rinpoche, Chokgyur Lingpa und anderen. Diese Lehrer verfolgten ganz bestimmte Ziele. Die drei wichtigsten waren: seltene Lehren zu bewahren, sektiererischer Voreingenommenheit entgegen zu wirken und der Übung und Anwendung des Dharma im täglichen Leben wieder mehr Geltung zu verschaffen. Seltene und wenig bekannte Lehren sind besonders durch ein Abreißen der Überlieferung gefährdet. Da eine unterbrochene Überlieferungslinie nicht wiederaufgenommen werden kann, war es ein Ziel dieser Lehrer, die Sammlung seltener und wirksamer Meditationsmethoden, die in Gefahr waren, verloren zu gehen, zu sammeln. Dieses Ziel wurde hauptsächlich durch Kongtruls und Khyentses bedeutende Sammlungen kontemplativer Methoden und der damit verbundenen Ermächtigungen erreicht.
Kongtrul und andere wollten zwar dem starren Sektierertum entgegenwirken, hatten selbst dabei aber keinerlei Absicht, eine neue Schule oder Linie zu begründen. Die Rime-Idee war ein Übungsweg, der sich jeweils auf diejenige Linie oder Lehre stützte, die der einzelne für sich für angemessen hielt, wobei er gleichzeitig den Wert und die Gültigkeit aller buddhistischen Traditionen anerkannte.
Das dritte und vielleicht wichtigste Ziel war die Wiedereinführung des Dharma in die Belange des täglichen Lebens. Die Lehrer wollten verhindern, dass der Dharma zu einem bloßen Auswendiglernen oder Rezitieren, zu einem System vorgegebener Antworten und Übungen, versteinerte – vielmehr sollte er den einzelnen anleiten, in jeder Lebenslage intelligent und voller Mitgefühl zu handeln.
Und genau darum geht es bei den „Sieben Punkten der Geistesübung“. Für die meisten von uns ist es sehr schwer, unter allen Umständen wirklich intelligent und mitleidvoll zu handeln. Unsere eigenen Interessen, die Sorge um unsere eigenen Bedürfnisse, beeinflussen und bestimmen, wie wir die Ereignisse um uns wahrnehmen und wie wir darauf antworten. Wenn wir sehr stark an unserem Ego haften, wird es uns schwer fallen, es einfach aufzugeben, und unsere Versuche, mitfühlend und intelligent zu handeln werden unbeholfen sein und Reue oder Schuldgefühle verursachen.
Wenn wir jedoch verstehen, dass das Ego ein Trugbild ist, dass das Selbst, an dem wir hängen, in Wirklichkeit nicht existiert, und wenn wir uns daran gewöhnen, unsere eigenen Interessen nicht mehr zu verfolgen, dann werden wir unser Ego leichter aufgeben können, etwa so, wie wir einen alten Pullover, der uns ohnehin nicht mehr passt, ohne Bedauern wegwerfen. Ein tieferes Vertrautwerden mit dieser Sichtweise wird sich durch sitzende Meditation nach den in diesem Werk vermittelten Methoden einstellen. Sitzende Meditation ist unerlässlich, sie ist das einzige Mittel, mit dem dieser neue Zugang zur Welt entwickelt werden kann. Wenn jedoch die Handlungen unseres täglichen Lebens unsere Übungen nicht widerspiegeln, dann ist die Meditation unwirksam.
In anderen Worten: dies bedeutet nicht nur, dass wir toleranter, weniger arrogant, offener und ansprechbarer werden, sondern dass wir aufrichtig in Frieden mit uns selbst leben, auch in schwierigen Situationen natürlich, glücklich und fröhlich sind, und dass unsere Handlungen weder Bedauern noch ungute Gefühle auslösen. Deshalb besteht ein größerer Teil des Geistestrainings aus Richtlinien, wie man mit Situationen des täglichen Lebens umgeht. Beständige Meditation und Aufmerksamkeit im Alltagsleben gehen Hand in Hand: es sind zwei Aspekte einer Übung und nicht zwei Aktivitäten, die nichts miteinander zu tun haben. Wenn zum Beispiel Menschen, die durch diese Methode ihre Übung schon weit entwickelt haben, einem anderen Menschen begegnen, der Sorgen oder Schmerzen hat, werden sie sich sofort spontan vorstellen, dass sie das Leiden dieses Menschen auf sich nehmen. Wenn wir mit beiden Aspekten arbeiten, wird die Gewohnheit, am Ego anzuhaften, von uns fallen und wahre Intelligenz und wahres Mitgefühl – die Realisation von Nicht-Ego und allumfassendem Mitgefühl – werden an seine Stelle treten.
Die Quelle der Überlieferung
Der große, wunderbare Meister Atisha studierte über einen längeren Zeitraum hinweg bei drei Lehrern: Dharmakirti, einem Meister des Bodhicitta, der die mündliche Überlieferung dieser Kernunterweisungen von dem Großen Weisen und seinen Söhnen erhalten hatte; Guru Dharmarakshita, der durch Liebe und Mitgefühl die Leerheit realisierte und in einem Akt von Großzügigkeit sein eigenes Fleisch hingab; und Yogi Maitreya, der das Leiden anderer wirklich auf sich nehmen konnte. Mit außerordentlichem Eifer vollendete Atisha seine Studien, und Bodhicitta erfüllte sein Bewusstsein. Er kam als Meister des Dharma nach Tibet. Obwohl er unzählige Lehren kannte, die er hätte weitergeben können, beschränkte er sich auf die Methode, die hier besprochen wird. Von den unzählig vielen Schülern der drei Arten, die er zur Erleuchtung und in die Freiheit führte, waren diese seine Hauptschüler: Ku-tön Tsön-dru, Ngo Leg-pe Sherab und Drom-tön Gyal-we Jungne. Drom-tön Rinpoche wurde als Avalokiteshvara, die Verkörperung des erwachten Mitgefühls, angesehen.
Zusammen mit seinen drei Schülern, Ausstrahlungen der drei Meister der drei Buddha-Familien, begründete er drei Lehren: die kanonischen Texte, die Schlüsselunterweisungen und die Kernunterweisungen. Diese Lehren wurden von einer ganzen Folge großer spiritueller Meister übermittelt. Den Gelugpas fiel die Tradition zu, die Sechs Kanonischen Texte der Kadampas weiterzugeben; die Schlüsselunterweisungen der vier Edlen Wahrheiten überlieferten die Dagpo Kagyü; und beide Schulen bewahrten die Lehren der Kernunterweisungen über die Sechzehn Essenzen. Die berühmte Kadampa-Tradition hält die Lehre der Sieben Dharmas und Gottheiten: die vier Gottheiten, die den Körper schmücken, die drei Behältnisse, die die Rede schmücken, und die drei Disziplinen, die das Bewusstsein zieren. Obgleich diese wertvolle Tradition unzählige Unterweisungen umfasst, die deutlich in der Sutra-Tradition beheimatet sind, jedoch auch eine gewisse Verbindung zur Tantra-Tradition haben, lehren sie alle doch nichts anderes als eindeutig und ausschließlich den Weg der Vereinigung vom Mitgefühl und Leerheit.
Da die hier vorgestellte Lehre besonders den Aspekt des relativen Bodhicitta hervorhebt, verfasste die Mehrzahl der hervorragenden Träger dieser Überlieferung sehr bedeutsame Unterweisungen zum Austausch von Selbst und Anderen, die auf ihren eigenen Erfahrungen und Erfolgen beruhten. Aus der Vielzahl der überlieferten Kommentare zu dieser Methode stammen die „Sieben Punkte der Geistesübung“ aus der Tradition der spirituellen Unterweisungen von Chekawa Yeshe Dorje.
Wer schnellen Schutz
für sich und alle anderen wünscht,
soll dieses heilige Geheimnis nutzen,
sich selbst gegen die anderen auszutauschen.
Aus: Jamgon Kongtrul: Der große Pfad des Erwachens
Ein Kommentar zur Mahayana-Lehre der Sieben Punkte der Geistesübung
Theseus-Verlag, 3. Auflage 1996
Aus Rundbrief 1/2003