Weder Samsara noch Nirvana sind jenseits von Mahamudra. Mahamudra ist eine Methode zur Erkenntnis der wahren Natur aller Dinge. Da unser Geist durch Verwirrung und Unwissenheit getäuscht ist, nehmen wir nur den augenscheinlichen Aspekt der Dinge wahr. Wir sind verwirrt und leiden sowohl durch Erwartungen als auch durch Furcht. Alle äußeren Phänomene sind Aspekte unseres Geistes. Durch das Studium und die Praxis von Mahamudra erkennen wir, daß alle Erscheinungen Trugbilder und alle Wahrnehmungen Projektionen unseres Geistes sind. So ist es möglich, den absoluten Zustand des Friedens zu erreichen.
Die grundlegende Ursache von Verwirrung und allen anderen Unzulänglichkeiten in Samsara ist die Unwissenheit. Aus der Unwissenheit entstehen die zwei Arten des Selbst: das Selbst der Person und das Selbst der Phänomene. Das Selbst der Person drückt sich in den Gedanken ‚Ich‘ oder ‚Mein‘ aus. Wir sind diesem Selbst verhaftet und ärgern uns deshalb über die Existenz anderer Wesen. Dies wiederum ruft störende Gefühle hervor, die negatives Karma schaffen. Alles negative Karma ist verantwortlich für das Leiden in Samsara. Woher kommt dieses Selbst? Existiert es in unserem Körper, unserem Geist oder unserem Namen?
Der Körper ist zusammengesetzt aus den vier Elementen: die feste Form entstammt dem Erdelement, die Körperflüssigkeit dem Wasserelement, die Körperwärme dem Feuerelement und der Atem dem Windelement.
Diese Elemente sind die gleichen, die auch in den äußeren Phänomenen aufzufinden sind. Ebenso, wie die letzteren kein Selbst aufweisen, tun es auch die ersteren nicht.
Existiert also das Selbst im Geist? Noch niemand hat den Geist gesehen, denn er besitzt weder Farbe, Form noch räumliche Dimension. Deshalb gibt es auch kein Selbst, das im Geist existiert.
Existiert es dann im Namen? Unser Name ist nur eine vorübergehende Erscheinung und ohne materielle Substanz. Deshalb existiert das Selbst auch nicht im Namen.
Bezüglich des Selbst der Phänomene behaupten einige, daß Phänomene aus sich selbst heraus existieren. Aber wenn wir die Phänomene bis in die kleinsten Teile aufteilen, erkennen wir, daß sie nicht unabhängig existieren. Wenn die Phänomene keine Existenz besitzen, wie kann dann ein Selbst existieren? Durch eine derartige Analyse des Selbst können wir Unwissenheit und Verwirrung beseitigen und reine Weisheit und Mitgefühl für alle fühlenden Wesen entwickeln, insbesondere jenen gegenüber, die die Wahrheit des Dharma noch nicht erkannt haben.
Um Mahamudra praktizieren zu können, ist es wichtig, die Vorbereitenden Übungen und die Reinigungsübungen abgeschlossen zu haben und einen ruhigen und klaren Geist zu haben. Dann muß man einen spirituellen Meister aufsuchen. Wenn man die innere Weisheit erlangt hat, ist man frei von Anhaftung und Furcht. Diejenigen, die in der Praxis der Weisheit voranschreiten, besitzen die Achtsamkeit der Tugend, wodurch die störenden Gefühle beseitigt werden und die geistige Kraft zunimmt. Der Geist wird tatsächlich so unerschütterlich wie ein Berg, so tief wie das Meer und so weit wie der Raum. Dadurch hat man sich vom samsarischen Leben gelöst, wendet sich völlig der Meditationspraxis zu und erfreut sich an wahrem Frieden und Glück.
Anmerkung: Mahamudra (Skrt.), das "Große Siegel" der Wirklichkeit, bezeichnet eine der höchsten Lehren des Vajrayana, die in Tibet besonders in der Kagyü-Schule überliefert wurde. Es wird erklärt als das Wissen um die Leerheit (Skrt. Shunyata), die Freiheit vom Kreislauf der Existenzen (Skrt. Samsara) und die Untrennbarkeit dieser beiden Zustände. Die Praxis und das Erkennen von Mahamudra ist die Essenz aller Dharmas. Sie ist das Erkennen der höchsten Wirklichkeit, die Verwirklichung der Natur des Geistes. Es ist ein Zustand der Vollkommenheit, der frei von allen dualistischen Konzepten ist. Diese Einsicht ist nicht verschieden von der Erkenntnis der Prajnaparamita (vollkommene Weisheit) und der höchsten Erkenntnis aller Buddhas.
Dieser Beitrag wurde dem Buch "Auf der Suche nach dem Reinen Nektar des langen Lebens – Grundlagen des tibetischen Buddhismus" von Ven. Khenpo Könchog Gyaltsen entnommen.
Aus Rundbrief Herbst 1999