Kyunga Könchog Zopa Gyatso verbrachte fünfunddreißig Jahre seines Lebens in Klausur. Er war ein verwirklichter Meister der Drikung-Kagyü Mahamudra und der Sechs Yogas von Naropa. Er war auch ein Tertön, der Dharma-Textrollen der Dakinis und andere Dharma-Schätze entdeckte. Bachung Rinpoche rühmte ihn stets als die Manifestation des indischen Mahasiddha Dombi Heruka. In der Zeit nach 1970 waren die Beiträge zur Erhaltung und Pflege der kostbaren Drikung Kagyü Linie von Kyunga Rinpoche und Bachung Rinpoche einzigartig. Kyunga Rinpoche wurde 1911 in Chumbo / Kham geboren. Er hatte viele Geschwister. Seine Familie gehörte zu den Sakya Khon oder den weiblichen Nachkommen der Sakya-Familie. Sein Vater Nondrup und seine Mutter starben, als er noch sehr jung war. Ein paar Jahre nach seiner Geburt zog seine Familie in die Gegend von Drikung in Tibet. Das Haus seiner Familie befindet sich genau unterhalb des Klosters Drikung Thil.
Im Alter von vier Jahren nahm er Zuflucht vor der Statue des Erhabenen Jigten Sumgön in der Haupthalle des Klosters Drikung Thil und erhielt den Namen Könchog Zopa Gyatso. In der folgenden Zeit blieb er im Kloster und erlernte die religiösen Rituale, Mudras und Instrumente. Wenn er mit den anderen Novizen spielte, sprach er immer davon, ein Haus für die Klausur zu errichten und sein Leben in Zurückgezogenheit zu verbringen. Schon als Kind wurde er von den anderen Mönchen der Gruppe als ihr Anführer anerkannt.
Mit fünfzehn Jahren wurde ihm aufgrund seines vorbildlichen Benehmens die Ehre zuteil, dass er den Titel Umze (Musikmeister) erhielt. Er hatte aber den Wunsch, umfassend Philosophie zu studieren und ging deshalb an das ‚Sunray’s Garden College‘, das sich zu dieser Zeit in Yamari befand. Er lernte bei dem Lehrer Nayrong Tulku Jamyang Wangje, einer Emanation der Löwen-Sprache von Manjushri und einem Herzensschüler des berühmten Dzogchen Khenpo Shenga. Innerhalb von fünf Jahren schloss er seine Studien der Dreizehn Großen Indischen Kommentare vollkommen ab und erhielt den gesamten Zyklus der Longchen Nyingthig Lehren.
Danach erhielt er die Bhikshu-Ordination von Shiwä Lodrö (1874 – 1943), dem sechsten Chetsang Rinpoche und 34ten Thronhalter der Drikung Kagyü Linie. Von ihm erhielt er auch viele Ermächtigungen und mündliche Unterweisungen. Nach seinem Schulabschluss erhielt er Unterweisungen zum Fünfteiligen Pfad der Mahamudra von dem Mahasiddha Ankong Rinpoche und von Tseden Rinpoche, dem Klausur-Meister von Drikung Thil. Außerdem brachte er einem berühmten Klausur-Yogi Dorje Logga ein kleines Stück Gold dar und erhielt mündliche Unterweisungen zu Mahamudra und Maha Ati. Er erhielt die Sechs Yogas von Naropa vier Mal, und zwar von Seiner Heiligkeit Shiwä Lodrö, von Tseden Rinpoche, von Ankong Rinpoche und Tsar Ö Dorje Logga. Tseden Rinpoche war fünf Jahre lang sein Klausur-Meister in Drikung Thil. Er war ein Vajra-Bruder des Mahasiddha Bachung Rinpoche und von Khenpo Namnang, einem berühmten Madyamika-Meister, die seine Kameraden in der Schule und in der Klausur waren. Bachung Rinpoche nannte Kyunga Rinpoche immer Dombi Heruka und sich selbst Naropa. Einmal waren die drei Vajra-Brüder gemeinsam unterwegs und kamen durch einen Ort, der Tsega Tan heißt. Unbemerkt von seinen Freunden ruht sich Kyunga Rinpoche auf einem großen Felsen aus, während die anderen weiter nach Lhe Tho gingen. Als sie merkten, dass er nicht mehr bei ihnen war, warteten sie auf ihn. Als er wieder mit ihnen zusammentraf, sahen sie, dass er einen kostbaren Phurba in der Hand hielt. Er sagte: „Wenn unsere Praxis dieselbe ist, dann zeigt mir bitte einen ähnlichen Terma-Phurba.“
Weil Kyunga Rinpoche außergewöhnliche Vollendung im Fünfteiligen Pfad der Mahamudra und in den Sechs Yogas von Naropa hatte, sandte ihn Seine Heiligkeit Shiwä Lodrö in den dreißiger Jahren zum heiligen Lachi-Gebirge, einem besonderen Ort von Milarepa, um dort das Kloster für drei Jahre als Vajradhara zu leiten. S.H. versprach ihm, dass er, nachdem er diese Pflicht erfüllt habe, frei sei, um als Yogi umher zu wandern. Lachi ist der heilige Ort von Chakrasamvaras rechtem Ohr. Jedes Jahr ist er aufgrund heftiger Schneefälle für drei bis vier Monate vollkommen von der Umwelt abgeschnitten. Als Vajradhara oder Oberhaupt des Klosters von Lachi gab er regelmäßig Unterweisungen für die Yogis in der Klausur. Er blieb dort für sechs bis sieben Jahre. Er war bekannt dafür, dass er häufig Dohas, Lieder der Verwirklichung, sang. Jetzt sind einige von ihnen, wie der ‚Lobpreis an Naropa‘, von seinen Schülern aufgezeichnet worden.
Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte, reiste er mit Einverständnis von S.H. Shiwä Lodrö nach Tsari, zum Berg Kailash, nach Dolpo in Nepal, nach Yanglse sowie nach Bodhgaya und Varanasi in Indien. An jedem Ort dieser Pilgerfahrt machte er für mehrere Monate ein Retreat. Schließlich erreichte er Sansang, den heiligen Ort von Guru Rinpoche, der zu Fuß einen Monat vom Berg Kailash entfernt ist. Er verbrachte fünfzehn Jahre auf diesem hohen Berg in Klausur. Weil ihn die ortsansässige Menschen nicht kannten, nannten sie ihn Tsar Urgen Tsampa was soviel heißt wie ‚der Yogi auf dem Felsen von Guru Rinpoche’. Als Tertön fand er an diesem Ort einige Dakini-Textrollen. Obwohl er die Gegenstände fand, enthüllte er in diesem Leben die Lehren in ihnen nicht, weil er sich ihrer nicht völlig bewusst wurde und weil sich auch die notwendigen Bedingungen nicht einstellten. Aber im Alter von siebenunddreißig Jahren erhielt er direkt von der Dakini die Erlaubnis, eine Frau zu nehmen. Eines Tages träumte er, dass ihn eine Dakini rief. Beim Aufwachen ging er in die Richtung der Dakini und fand ein achtzehn Jahre altes Mädchen, mit allen notwendigen Zeichen, die er zur Frau nahm. Nach dem Mittagsmahl nahm sie sein Meditationskissen und folgte ihm hinauf zu den hohen Bergen, wo er Mahamudra praktizierte. Manchmal folgte sie ihm sogar um Mitternacht auf den Leichenplatz, um Chöd zu praktizieren. Die Höhlen in den Schneebergen von Sansang sind äußerst kalt und windig, aber wegen seiner hohen Verwirklichung der Inneren Hitze ging es ihm gut. In dieser Zeit erkannten einige der Dorfbewohner seine Verwirklichung und kamen zu ihm, um Belehrungen zum Fünfteiligen Pfad der Mahamudra und den Sechs Yogas von Naropa zu erhalten. Nachdem sie seine Unterweisungen praktizierten, hatten sie sehr gute Ergebnisse. So wurden diese kostbaren, schwierigen und tiefgründigen Lehren geschickt weitergegeben.
In den fünfziger Jahren wurden die Bedingungen schlechter. Eines Tages ging er alleine zu einem hohen, entfernt gelegenen Berg. Er entdeckte ein altes, schwarzes Stück Papier. Darauf stand geschrieben: „Es ist jetzt nicht gut hier zu bleiben, gehe zurück nach Drikung Thil.“ Deshalb kehrte er, gemäß der Weisung seines Schützers, nach Drikung Thil zurück. Einige der Mönche konnten nicht akzeptieren, dass er eine Frau hatte und sich wie ein Mahasiddha verhielt. So ging er schon vor 1959 nach Gantok in Sikkim. Dort traf er den zweiten Dzongsar Jamyang Khyentse, Chökyi Lodrö. Sie wurden enge Freunde und diskutierten immer über den Dharma. In dieser Zeit hatte er zwei Mönchsschüler, die mit ihm nach Sikkim gekommen waren. Ihr Verständnis der Mahamudra und der Sechs Yogas von Naropa verursachte Neid und sie wurden vergiftet, einer in Sikkim und einer in Bhutan. Nur Rinpoche und seine Frau überlebten. Von da an wusste niemand etwas von seiner Verwirklichung. Er arbeitete unerkannt als Straßenarbeiter in Gruppen einfacher tibetischer Flüchtlinge. Für seine schwere Arbeit erhielt er täglich anderthalb Rupien, die zum Überleben reichen mussten. So lebte er viele Jahre versteckt und gab niemals öffentlich Belehrungen.
Als die Straße Bir in Nordindien erreichte, wurde er von dem berühmten Kagyü-Meister Lama Sansang, der viele Schüler hatte, als sein früherer Lehrer erkannt und Lama Sansang, der sehr bewandert in den Sechs Yogas von Naropa war, zollte ihm öffentlich Respekt. Den Menschen wurde bewusst, dass Kyunga Rinpoche weit davon entfernt war, ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Als Lama Sansang starb, erschien ein Regenbogen und es regnete Blumen vom Himmel und es gab viele andere glückverheißende Zeichen. Die Menschen dachten, wenn sein Schüler so verwirklicht ist, um wie viel mehr muss es sein Lehrer, Kyunga Rinpoche, sein. Während dieser Zeit in Bir führte er viele Gespräche bezüglich der Sicht von Mahamudra usw. mit dem Tutor des einundvierzigsten Sakya Trizin, Khenpo Rinchen. Sie verglichen auch die komplizierten Mudras von Vairocana der beiden Linien.
Anfang der siebziger Jahre erreichten die Straßenarbeiter Manali. Dort besuchte ihn der erste Tukse Rinpoche (1915 – 1983) der Drukpa Kagyü Linie, um ihn kennen zu lernen. Nach einem tiefgehenden Gespräch über Mahamudra in der Kagyü Linie war Tukse Rinpoche so bewegt durch die hohe Verwirklichung von Kyunga Rinpoche, dass er ihn lobte. Dann bat Tukse Rinpoche ihn, das Rad des Dharma zu drehen, aber bescheiden antwortete er, dass er jetzt zu alt sei. Kyunga Rinpoche gab jedoch Apo Rinpoche, dem Enkel des Mahasiddha Shakya Shri aus der Drukpa Kagyü Linie, die innersten mündlichen Unterweisungen der Karma Mudra. Als der neunte Togdän Rinpoche der Drikung Kagyü Linie, Chöje in Ladakh, Tukse Rinpoche vorgestellt wurde, erfuhr er von diesem von der Ankunft Kyunga Rinpoches. Er verschaffte Kyunga Rinpoche eine besondere Aufenthaltsgenehmigung für Ladakh, wo es viele große Drikung-Klöster gab (zu dieser Zeit war es tibetischen Flüchtlingen nicht erlaubt, sich in Grenzgebieten wie Ladakh aufzuhalten). Dort blieb er zuerst in Samsang Phari, einem Kloster, das zu einem der drei Hauptklöster der Drikung Linie gehörte, Shaghoku.
In dieser Zeit war er der qualifizierteste Klausur-Meister der Drikungpas in Indien und wurde deshalb gebeten, eine Drei-Jahres-Klausur zu leiten. 1974 begann die erste Drei-Jahres- Klausur, an der Lama Sönam Jorphel und neun andere Schüler teilnahmen. Die Bedingungen waren so ärmlich, dass das Kloster nur das Notwendigste für Kyunga Rinpoche aufbringen konnte. Die anderen Teilnehmer der Klausur konnten sie nur mit Feuerholz versorgen. Da sie keine Unterstützung erhielten, mussten sich die Schüler in der Klausur selbst versorgen. Kyunga Rinpoche nahm die schwere Verantwortung auf sich, selbst auch für die Schüler zu sorgen. Die Bedingungen waren so hart, dass im Winter Schnee in die Räume geweht wurde und die Schüler mussten einen Ofen aus Eisenteilen bauen. Im Sommer regnete es durch das Dach herein. Die Schüler baten viele Male darum, die Klausur verlassen zu dürfen, um für ihren Unterhalt betteln zu gehen. Aber er erlaubte es ihnen nicht. Er tat sein Bestes, um allen zu helfen, so dass sie sich auf ihre Übung konzentrieren konnten. Kyunga Rinpoche besaß eine kleine Flasche, in die er eine Linie mit dem Messer einritzte. Alle Arten von Getreide, die er gespendet bekam, füllte er in diese Flasche. Wenn das Getreide die Höhe der Linie erreichte, versammelte er alle Schüler und machte eine Tsog-Opferung. Zu einer bestimmten Zeit mussten die Schüler eine Feuer-Puja veranstalten. Kyunga Rinpoche tat stets sein bestes, um alle Texte und Ritualgegenstände wie Vajra und Gantha zu beschaffen, um die Zeremonie in dieser schwierigen Zeit möglich zu machen. Seine Schüler waren überglücklich, dass sie einige Vajras und Ganthas hatten. Kyunga Rinpoche kümmerte sich in diesen drei Jahren völlig um die Ausbildung der Schüler und ging jeden Tag durch das Klausurhaus. Wenn sie lauschten, konnten sie stets seine Schritte hören, und sie konnten immer seine Anwesenheit spüren. Wenn es um die Übung ging, war er sehr genau. Während der Zeit der Niederwerfungen im Winter war es den Schülern nicht erlaubt, Niederwerfungsbretter zu benutzen, sogar wenn ihre Ohren und Arme beinahe erfroren waren, und sie wurden aufgefordert, sich direkt auf den Boden niederzuwerfen. Obwohl viele krank wurden, verließ niemand die Klausur.
In den wenigen Tagen zwischen den eigentlichen Klausurperioden vergeudete Kyunga Rinpoche keine Zeit. Die Schüler studierten dann die Rituale und Mudras von Chakrasamvara, Vairocana usw. Kyunga Rinpoche hatte nur einen Gedanken, nämlich die Praxislinie makellos und ohne Fehler fortzuführen. In dieser Zeit wurde Kyunga Rinpoche von Drubpa Tukse Rinpoche in das Kloster Tsartzi eingeladen, wo er viele mündliche Unterweisungen über die Methode der Übung entsprechend der Drikung Kagyü Linie gab. Damit erfüllte er die Wünsche von Tukse Rinpoche. Später schrieb Tukse Rinpoche einen Brief an die Schüler in der Klausur und ermutigte sie, den Unterweisungen dieses seltenen Lehrers genau zu folgen.
Da alle die guten Ergebnisse der ersten Drei-Jahres-Klausur sahen, baten ihn die Mönche des Klosters Lamayuru, in ihr Kloster zu kommen. Rinpoche antwortete: „Wenn es dort Mönche gibt, die eine Klausur machen möchten, werde ich kommen.“ Und so begann 1978 eine zweite Klausur in Lamayuru mit zwölf Mönchen, darunter Khenchen Könchog Gyaltsen Rinpoche. Am Ende des Jahres, im November, kam S.H. Chetsang Rinpoche, um an der Klausur teilzunehmen. Er erhielt in dieser Zeit die Siebenunddreißig Übungen eines Bodhisattva und viele Langlebens-Einweihungen von Kyunga Rinpoche.
Glugpa Gele Rinpoche begleitete Seine Heiligkeit Chetsang Rinpoche und er sprach zu Kyunga Rinpoche auf folgende Weise: „Seine Heiligkeit ist die Wiedergeburt deines Wurzel-Guru, S.H. Shiwä Lodrö. Er ist ein wirklicher Mahasiddha, der wieder in Samsara erschienen ist. Er ist kein gewöhnliches Wesen. Er hat genug Leiden in China erfahren. Erlaube ihm deshalb bitte, als besondere Rücksichtnahme, weniger Niederwerfungen zu machen und übertrage ihm schnell die Gesamtheit der Linie.“ Kyunga Rinpoche war betrübt, dies zu hören und lehnte ohne Zögern ab. Er sagte: „Wenn er eine Inkarnation von S.H. Shiwä Lodrö ist, muss er mehr als andere praktizieren, um sein Qualität unter Beweis zu stellen.“
Als Gele Rinpoche nach Dharamsala zurückkehrte und Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama davon berichtete, war der Dalai Lama so glücklich, dass er seine Hände als Zeichen der Ehrerbietung zusammenlegte und sagte: „Kyunga Rinpoche ist ein wahrer Guru!“ Kyunga Rinpoche betonte gegenüber S.H. Chetsang Rinpoche: „Es ist nicht wichtig, wie lange es dauert. Wenn du Niederwerfungen machst, musst du dich vollständig niederwerfen.“ Seine Heiligkeit führte 300.000 Niederwerfungen aus. Seine Begleiter waren über seine Kraft erstaunt, die es ihm ermöglichte, die Niederwerfungen in sehr kurzer Zeit zu beenden.
Während dieser Zeit waren die Bedingungen auch sehr ärmlich. Die Yogis im Retreat waren froh, eine dünne Bettdecke zu haben. S.H. Chetsang Rinpoche war erst vor kurzem von Tibet nach Indien gekommen. Er lebte unter nicht viel besseren Bedingungen. Sein Begleiter Lama Könchog pflanzte vor der Klausurhütte Kartoffeln an und verkauft sie an die indische Armee. Das daraus entstandene Einkommen verwendete er für seinen Lama, S.H. Chetsang Rinpoche, damit er seine Klausur fortführen konnte. Kyunga Rinpoche lebte in einem Zelt. Wie sonst sammelte er alle Opfergaben seiner Sponsoren und legte sie unter seine Matratze. Regelmäßig verteilte er sie unter seinen Schülern. Er trug niemals die guten Stoffe, die er von seinen Sponsoren erhielt. Wenn er Spenden für Pujas, die er für Sterbende ausführte, erhielt (wie Juwelen und Jade) zerrieb er sie und vermischte sie mit Ton, um Stupas anzufertigen, die er dem Verstorbenen widmete. Er behielt nie etwas für sich oder seine Familie. Sogar seiner eigenen Tochter gab er niemals Schmucksachen oder schöne Stoffe. Seine Tochter hatte nur ein Paar Kleider, obwohl sie viele Male um gute Kleider bat, um die Gäste zu bewirten. Einmal gab es in einem Tsog viele wünschenswerte Dinge zu essen, nach denen sich die Tochter sehnte, aber trotzdem gab er die Opfergaben seinen Schülern und ihr gab er nichts. Seine Familie besaß keine Ersparnisse und hatte nie genug Nahrungsmittel für den nächsten Tag, doch er war zufrieden. Sein ganzes Mitgefühl richtete sich auf seine Schüler und so demonstrierte er die Widmung eines wahren Yogi. Er warnte die Menschen immer: „Das Eigentum des Klosters und Opfergaben sind die Quelle der Auseinandersetzung.“ Einmal zeigte er auf seine zerrissenen Kleider und sagte zu seinen Schülern: „Wer kann in diesem Alter noch solche Kleider tragen? Das ist ein Wunder.“
In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde S.H. der Dalai Lama und S.H. Chetsang Rinpoche vom dritten Ontul Rinpoche zur Einweihung seines neuen Klosters eingeladen, das am einem heiligen See von Guru Rinpoche in Tso Pema. In der Menschenmenge erkannte S.H. der Dalai Lama Kyunga Rinpoche und ging hinüber, um ihn zu begrüßen. Bevor er seinen Kata überreichen konnte, gab der Dalai Lama ihm den Kata zurück und berührte seine Stirn mit seiner eigenen, ein Zeichen großen Respekts. Der Dalai Lama sagte zu ihm: „Du bist ein außergewöhnlicher Linienhalter der Drikung Kagyü Linie, bleibe bitte lange am Leben. Komm bitte nach Dharamsala, um eine Langlebens-Puja für mich und für dich auszuführen.“ Während der Zeit der Einweihung lehrte Kyunga Rinpoche den ‚Juwelenschmuck der Befreiung‘, die ‚Essenz des Mahayana‘ und den ‚Sonnenstrahl Kommentar über den Gongchik, die eine Intention der Buddhas‘ von Rigdzin Chos Grag (1595 – 1659), dem 24ten Thronhalter der Drikung Kagyü Linie. Außerdem gab er in der Öffentlichkeit die großen Chakrasamvara- und Vairocana-Ermächtigungen. Kyunga Rinpoche sagte zu seinen Schülern: „Der Gongchik ist ein wichtiger Text, den jeder studieren sollte und wenn ihr diesen Text lernen wollt, ist Khenpo Rinchen der beste Lehrer. Wenn ihr eine Klausur machen wollt, ist das auch gut. Euer Geist ist euer Lama.“ Später konnten die Schüler keine Belehrungen über den Gongchik von Khenpo Rinchen erhalten und deshalb gab er selbst den Schülern, zu denen auch Khenchen Könchog Gyaltsen gehörte, vier Monate lang alle drei Hauptkommentare. So bewies er seine Fähigkeiten sowohl in Bezug auf die Studien als auch in Bezug auf die Praxis. Danach wurde er von Ontul Rinpoche eingeladen, eine weitere Klausur im Kloster von Tso Pema zu leiten, in dem Ontul Rinpoche die Lehren vom Ngöndro bis zur Chakrasamvara-Praxis vollendete.
Kyunga Rinpoche war ein Lehrer, der Unterweisungen gemäß der Intelligenz jedes einzelnen Schülers geben konnte. Ihm gefielen nur Schüler, die die Klausur-Praxis ausführten. Er wollte seine Unterweisungen nicht an diejenigen verschwenden, die nicht praktizieren wollten. Deshalb war es nicht einfach, Unterweisungen von ihm zu erhalten. Aber er nutzte jede Gelegenheit, vor gewöhnlichen Leuten zu lehren. Er kannte die karmischen Ursachen und Wirkungen. Er begann zu lehren, einfach um die Leute anzuziehen, damit in ihnen der Wunsch entstehen konnte, zu lernen und zu praktizieren. Wenn sie einmal angebissen hatten, wurde er sehr streng mit ihnen. Rinpoche wollte nicht, dass seine Schüler in die Häuser gingen und Pujas ausführten, um damit Geld zu verdienen. Auch billigte er nicht, dass sie ihre klösterlichen Gelübde zurückgaben. Einmal starb die Mutter eines Klausur-Teilnehmers, aber Rinpoche erlaubte ihm nicht, die Klausur zu unterbrechen. Er sagte: „Was hat es für einen Zweck nach Hause zu gehen? Was steht in deiner Macht? Es ist besser hier in Klausur zu bleiben und das Verdienst zu widmen.“ Rinpoche dachte, wenn es wirklich notwendig ist, eine Puja zu veranstalten, ist es besser sie im Klausur-Raum im Kloster auszuführen als zum Haus des Gönners zu gehen, weil man weniger gestört wird und alle Ritualgegenstände verfügbar sind, was die Puja wirkungsvoller macht. Wenn man die Puja außerhalb ausführt, ist es schlecht für den Ausführenden und für den Gönner, weil die Puja dann weniger wirkungsvoll ist.
Rinpoche hatte auch die Fähigkeit, nicht menschliche Wesen zu erkennen und zu unterweisen. In der Zeit, als er die Plätze für die Klausurhäuser wählte, erklärte er den anwesenden Leuten: „Dort ist ein Naga, dort sind nicht menschliche Wesen. Meidet diese Plätze und stört sie nicht.“ Ein anderes Mal wurde ein Gebiet von Parasiten im Wasser befallen, was dazu führte, dass die Menschen innere Blutungen hatten. Die Menschen mussten ihre Tiere zu weit entfernten Trinkplätzen führen. Als Rinpoche eingeladen wurde, dort eine Puja auszuführen, sprach er sehr ernst zu den Insekten im Wasser: „Ihr verursacht den Tod anderer Wesen und viel Leiden. Das ist falsch.“ Wenn man Rinpoche nicht kennen würde, hätte man ihn für verrückt gehalten, wie er so vor sich hin murmelte. Kurze Zeit später verschwanden die Parasiten als Antwort auf seine Belehrung. Er konnte auch in Trockenzeiten den Regen herbeirufen.
Als Kyunga Rinpoche nach Dharamsala eingeladen wurde, um ein Langlebensgebet für S.H. den Dalai Lama auszuführen, war er auf dem Rückweg nach Ladakh in einen Unfall mit dem Bus verwickelt. Aufgrund der in Panik geratenen Menschenmenge erlitt er ernste innere Verletzungen. Wegen seiner hohen Praxisstufe erschienen die Zeichen der Verletzung nicht sofort. Zwei Monate später führte die Verletzung zu Erbrechen, immer wenn er etwas gegessen hatte. Er wurde sehr schwach, aber er gab noch immer Belehrungen, die die Yogis für ihre Klausur benötigten, ohne auch nur einen Gedanken an seine Gesundheit zu verschwenden. Das Kloster Lamayuru ist weit entfernt von jeder medizinischen Betreuung und sehr arm. Obwohl Lama Sönam Jorphel ihn jeden Tag besuchte und ihm tibetische Medizin gab, gab es keine Anzeichen für eine Erholung. Schließlich entschloss sich Kyunga Rinpoche, zehn Monate nach dem Unfall und im zweiten Jahr der zweiten Drei-Jahres-Klausur in Lamayuru, seinen Körper zu verlassen. Er sagte seinem Hauptnachfolger Lama Sönam Jorphel Rinpoche den Tag seines Parinirvana voraus. Er sagte zu den Yogis in Klausur: „Es ist nicht nötig, aus der Klausur zu kommen. Bleibt einfach im Mahamudra Samadhi. Praktiziert Guru Yoga: Den Geist mit dem Guru zu verbinden, ist genug.“ Als S.H. Chetsang Rinpoche die Nachricht erhielt, bat er um ein Treffen mit Kyunga Rinpoche. Deshalb gab Kyunga Rinpoche ihm die besondere Erlaubnis, ihn am 29ten Wintertag des tib. Kalenders um 4 Uhr nachmittags für eine halbe Stunde zu treffen. Kyunga Rinpoches Stimme war undeutlich, aber er gab S.H. Chetsang Rinpoche doch viele wichtige Ratschläge. Insbesondere sagte er: „In der Vergangenheit konntest du Tibet nicht verlassen und ich war besorgt um dich. Nachdem du herausgekommen warst, gingst du nach Amerika und ich war besorgt, dass du die Linie nicht weiterführen würdest. Jetzt bist du in Indien und du hast dein Studium und deine Praxis vollendet, also kann ich ohne Zögern sterben. Alle Dharmas sind unbeständig. Jetzt hast du die Verantwortung für die Drikung Kagyü Linie. Es ist eine schwere Aufgabe, aber du musst sie annehmen. Gehe zurück in die Klausur.“ Nach dem Treffen kam Lama Sönam Jorphel zurück, um sich um Rinpoche zu kümmern. Normalerweise sagte Kyunga Rinpoche niemals zu jemandem ‚bis morgen‘, aber diesmal tat er es. Komme morgen, sagte er. An diesem Tag bat er darum, dass sein Mandala-Set, das aus Gold und Silber bestand, zu Pulver zerrieben und zur Bemalung einer Buddha-Statue verwendet werden sollte, so dass es nicht zur Ursache für Auseinandersetzungen würde.
Bei Sonnenaufgang am 30ten Tag des Jahres 1980, als er 70 Jahre alt war, bat er um ein Bild von S.H. Shiwä Lodrö und brachte Opferungen dar und sprach Gebete. Er hielt die Hand von Lama Sönam Jorphel, den einzigen Begleiter, den er zugelassen hatte, und sagte: „Zum Zeitpunkt des Todes gibt es keinen Unterschied zwischen der sitzenden Meditationshaltung und der Glück verheißenden Schlafhaltung, aber ich wähle die zweite. Jetzt sollten wir das Gebet an den Guru rezitieren.“ Sie rezitierten das Gebet dreimal zusammen, er verband seinen Geist mit dem Geist des Wurzel-Guru und trat in den Zustand der Mahamudra ein. Indem er ins Nirvana einging, blieb er sechs Tage in Meditation. Während dieser Zeit war der Himmel wolkenlos und von blauer Farbe, ein Zeichen seiner Vollendung der Mahamudra. Als sein Körper verbrannt wurde, erschienen Wolken in der Form von Glück verheißenden Symbolen. Hinterher wurden viele Reliquien gefunden. Mit diesen Reliquien baute Lama Sönam Jorphel einen Stupa in Lamayuru.
Kolophon: Diese kurze einführende Biographie von Kyunga Rinpoche wurde aus Gesprächen zusammengestellt, die mit S.H. Chetsang Rinpoche, Khenchen Könchog Gyaltsen Rinpoche, Lama Sönam Jorphel Rinpoche, Lama Tenzin, Drubpön Samten sowie der Frau und der Tochter von Kyunga Rinpoche geführt wurden. Trotzdem wird hier nur ein kleiner Teil seiner Dharma-Aktivitäten aufgeführt. Alle Mängel und Unvollständigkeiten in dieser Biographie, die durch meine geringen Fähigkeiten entstanden sind, möge man mir verzeihen.
Die chinesische Biographie wurde im Juni 2001 von Acharya Jack Huang zusammengestellt. Sie wurde am 11. März 2002 von Acharya Jack Huang und Ani Nyima Drölma in der Songtsen Library in Nordindien ins Englische übersetzt. Möge Kyunga Rinpoche durch dieses Verdienst schnell zum Wohle der Wesen und zum Erhalt der Drikung Kagyü Praxislinie wiederkehren. M öge alles Glück verheißend sein.
Übersetzung: Heinz-Werner Goertz, 2004
Aus Rundbrief 1/2005