Anreise und Akklimatisieren in Leh
Wir fliegen von Frankfurt über Doha nach Delhi und von dort weiter nach Leh. Incredible India: Beim Wechsel vom internationalen zum Inlandsflughafen in Delhi um 4.45 Uhr scheinen die Menschen auf dem Fußboden den Schlaf der Gerechten zu schlafen.
In Leh lassen wir es auf 3.500 Metern Höhe zum Akklimatisieren an den ersten Tagen zunächst gemütlich angehen. Wir wohnen in einem netten und sauberen Guesthouse im Stadtteil Karzoo. Anhand der Essenszeiten lernen wir schnell den Unterschied zwischen deutscher Pünktlichkeit und ladakhischem Zeitempfinden. Das Essen ist grundsätzlich erst eine Stunde nach der vereinbarten Zeit fertig.
Und wir lernen, wie noch häufiger auf dieser Reise, dass es auch ein Leben ohne Wifi und Internet geben kann. Abgesehen davon, dass der Strom regelmäßig ausfällt, funktioniert die Technik an den meisten Tagen nicht oder nur unbeständig („Rooter is dancing!“). Angeblich soll irgendwo bei Bauarbeiten ein Kabel oder – später in Lamayuru – die Leitungen bei Überschwemmungen beschädigt worden sein. Aber vielleicht weiß auch einfach niemand, welches die entsprechenden Kabel sind.
Bevor wir am sechsten Tag nach Lamayuru weiterreisen, haben wir in Leh die Shanti-Stupa, den Königspalast und das Namgyal Tsemo Kloster besichtigt und dem dortigen „Incharge Lama“ die Begrüßung „Habe die Ehre!“ mit Original-fränkischem Akzent beigebracht. Ich habe jede Nacht schlaflos dem Bellen der unzähligen Hunde, dem Geschrei der ebenso zahllosen Esel und dem Duett der Muezzins gelauscht, die gegen 3.30 Uhr zum Gebet gerufen haben – und einem der Mönche beim Knacken seines eigenen Autos assistiert, weil er sich ausgeschlossen hatte.
Als wir übrigens später bei heftigem Regen mit diesem Auto die Klöster Hemis und Tikse besichtigen, werden wir auf dem Rücksitz mehrfach einer „Reinigungszeremonie“ unterzogen, weil die Lüftung nicht funktioniert und der Fahrer daher mit offenem Fenster fährt. Es ist außerdem dasselbe Auto, ein Hyundai Santro, mit dem wir am Schluss unserer Reise mit vermutlich maximal 50 PS und zum Teil nur 20 km/h in 13 Stunden an einem einzigen Tag 4.000 Höhenmeter und mehr als 300 Entfernungskilometer zum Pangongsee (und zurück) über den dritthöchsten Pass der Welt (Chang La: 5.360 Meter) zurücklegen.
Lamayuru und die Schlangenjahr-Belehrungen
Auf dem Weg nach Lamayuru wollen wir zwei weitere Klöster (Alchi und Wanla) besichtigen. Da wir aber nach der Besichtigung des ersten Klosters zum Mittagessen in einem Lokal einkehren, wo der Chef in Personalunion als Kellner, Koch und Kassierer fungiert und zudem nur über eine einzige Herdplatte verfügt, verschieben wir die Besichtigung des zweiten Klosters nach unserem mehr als zweieinhalbstündigem Zwangsaufenthalt auf den Rückweg.
In Lamayuru angekommen haben wir noch einen Tag zur freien Verfügung, bevor die Belehrungen anfangen. Wir machen eine Wanderung zum Kloster Atitse und erfahren bei unserer Ankunft am frühen Mittag, dass S.E. Ayang Rinpoche in etwa einer halben Stunde zu einem Retreat dort erwartet wird. Die Vorbereitungen zur Begrüßung laufen auf Hochtouren, alle wuseln durcheinander. Ein Auto mit Menschen in Trachten und mit Musikinstrumenten fährt ihm entgegen. Auch die Mönche, die das Rauchopfer bereiten, machen sich auf den Weg. Wir warten mehr als zwei Stunden. Schließlich müssen wir aufbrechen, um noch rechtzeitig nach Lamayuru zurückzukommen. Wir gehen an der Straße entlang, um Ayang Rinpoche wenigstens kurz zu sehen. Als wir nach mehreren Stunden schließlich fast wieder in Lamayuru angekommen sind und auf dem letzten Stück die Straße verlassen, um den Weg abzukürzen, biegt das Auto mit Ayang Rinpoche um die Ecke. Wir erkennen ihn an dem Begrüßungskommando, das etliche Stunden zuvor aufgebrochen war. Dumm gelaufen!
Die Belehrungen selber werden morgens von S.H. Drikung Kyabgön Chetsang gehalten und nachmittags von H.E. Choje Togdang Rinpoche. Letzterer nimmt es unter anderem mit den Erklärungen zur Drikung-Übertragungslinie so genau, dass wir nicht nur Seine Heiligkeit mit der Audienz zum 5-Uhr-Tee auf uns warten lassen müssen, sondern uns auch fragen, ob wir vielleicht kein Abendessen bekommen, wenn wir die Linienlamas vor dem Essen nicht fehlerfrei inklusive der korrekten Verwandtschaftsgrade auswendig aufsagen können.
Die Tage beginnen und enden mit Mandala-Opferungen und auch zwischendurch warten immer wieder Menschenschlangen vor dem Tempel und dem Thron Seiner Heiligkeit, um ihre Opferungen darzubringen. Die Mudra sitzt schon nach kurzer Zeit, die Rezitation leider bis heute noch nicht! Ab dem zweiten Tag dürfen die ausländischen Schüler wegen der Hitze in den Tempel gehen. Auf dem Platz vor dem neuen Tempel, der am ersten Tag in Anwesenheit des Chief Minister von Jammu und Kashmir unter aufwendigen Sicherheitsvorkehrungen eingeweiht worden war, sind die Zuhörer der prallen Sonne ausgesetzt. Wer dennoch draußen ausharrt und unter einem der zahllosen Schirme Schutz sucht, kommt regelmäßig in den „Genuss“ von Buttertee (bei mehr als 40 Grad Celsius) und Wasserfontänen, die in die Menge geschüttet werden, um die Hitze erträglicher zu machen. Am Tag der Zeremonie des Drikung Phowa Chenmo ist es schließlich so kuschelig eng auf dem Vorplatz, dass es kaum noch möglich ist, seinen Schirm aufzuspannen. Die Angaben zu den Besucherzahlen an diesem Tag schwanken zwischen 6.500 und 15.000, aber was macht das schon für einen Unterschied.
Tingmosgang und Kloster Tserkamo
Unsere Ankunft in Tingmosgang und im Kloster Tserkamo am 15. Tag unserer Reise sieht, zumindest mit westlichen Augen betrachtet, ungewöhnlich aus. Ein Teil unserer Gruppe hat den Weg, mit Zwischenstopp im Kloster Wanla, auf der Ladefläche eines Pick-ups – stehend oder sitzend z.T. auf Plastikstühlen – zurückgelegt. Alle haben ihre Gesichter mit Schals gegen den Fahrtwind geschützt und sehen weniger wie Pilger, sondern eher wie Untergrund-Kämpfer oder Bankräuber aus. Wir genießen den letzten gemeinsamen Nachmittag mit der gesamten Gruppe im idyllischen Klostergarten, bevor fünf von uns am nächsten Morgen zu einer mehrtägigen Trecking-Tour aufbrechen.
Als wir übrigen am Morgen des 18. Reisetages wieder nach Leh zurückfahren (müssen), haben wir nicht nur einige weitere Klöster und Statuen – unter anderem eine selbst entstandene Chenrezig-Statue, eine „angeflogene“ Manjushri-Statue und eine 23 Meter hohe Maitreya-Statue – gesehen sowie einem nächtlichen Reifenwechsel in einem abschüssigen Geröllhang im Licht einer Stirnlampe beigewohnt, sondern in den Familien der Mönche auch eine unbeschreiblich große Gastfreundschaft erlebt.
Nubratal und Pangongsee
Von Leh aus geht es schon am nächsten Morgen weiter an die indisch-pakistanische Grenze ins Nubratal nach Hunder. Auf der zugegebenermaßen unübersichtlichen, kurvenreichen und oft auch engen Straße, von der man vor allem in größeren Höhen durchaus das ein oder andere Autowrack (oder was davon übrig ist) in den Abgründen liegen sieht, lesen wir alle paar Kilometer auf Schildern „If married, divorce speed.“, „Speed thrills, but often kills.“, „East or West. Driving safe is the best.“, „Think and drive. Stay alive.”, „Life is short. Don’t make it shorter.“, „Speed is a knife that cuts life.” und ungefähr vierzig weiterer solcher Sprüche. Wir überstehen sowohl die Fahrt in Tashis 10-Personen-Bus wie gewohnt unbeschadet als auch die Überquerung des höchsten befahrbaren Passes der Welt (Khardung La: 5.602 Meter) ohne größere gesundheitliche Beschwerden. Im Nubratal erwartet uns am Abend mit einem Kamelritt in den Sanddünen zur Abwechslung ein eher klassisches Touristenprogramm, bevor wir auf dem Rückweg nach Leh am nächsten Tag dann aber doch wieder ein Kloster (Diskit) und die benachbarte 32 Meter hohe Maitreya Statue besichtigen und auch unserer ersten Yak-Herde oder vielmehr dem „Chef“-Yak begegnen, der unseren Bus wachsam im Auge behält, bis die Herde weitergezogen ist.
Nach einem Tag „schöpferischer“ Pause in Leh, an dem wir die „Ladakh Nuns Association“ und ihre Gründerin, die Ehrwürdige Amchi Tsering Palmo, zwecks medizinischer Konsultation besuchen, geht es am letzten Tag vor unserer Heimreise zum Pangongsee (und zurück) an die indisch-chinesische Grenze. Da wir für die mehr als 300 Entfernungskilometer und 4.000 Höhenmeter, die wir an einem Tag zurücklegen, am Ende mehr als 13 Stunden brauchen, brechen wir so früh auf, dass wir unter anderem die Frauen bei der Straßenreinigung – kräftig unterstützt durch zahllose Kühe und Esel – beobachten können. Auf dieser Tour sehen wir neben einigen Yak-Herden diesmal auch Murmeltiere – und Soldaten, die um fünf Uhr nachmittags Sit-ups auf der Straße machen müssen. Als wir vorbeifahren, geht der Drill-Sergeant vermutlich aus Demonstrationszwecken dazu über, in Englisch zu zählen. J Überhaupt ist, ähnlich wie an der Grenze zu Pakistan, auch hier die Militärpräsenz höher als in anderen Gebieten. Allerdings scheint das indische Militär im Vergleich zur hochtechnologisierten chinesischen Armee nur mit relativ einfachen Mitteln ausgestattet zu sein.
Bevor wir am nächsten Morgen über Delhi – mit einer recht gewöhnungsbedürftigen Übernachtung in Majnukatilla – und Doha nach Frankfurt zurückfliegen, nutzen wir am Abend dieses letzten Tages trotz der langen Fahrtzeit die Gelegenheit, uns bei einem gemeinsamen Abendessen vor allem bei Ani Sabine und Lama Samten, aber auch den anderen Mönchen, die uns regelmäßig begleitet haben, für die gelungene Organisation und umfassende Betreuung der Reise zu bedanken.
Neben unzähligen Bildern und Eindrücken haben mir vor allem die Genügsamkeit, aber auch das Improvisationstalent der Menschen sowie Unwägbarkeiten wie fehlendes Wasser, Strom, Internet, aber auch Kleinigkeiten wie das unerschöpfliche Beschriftungskauderwelsch (Visiting horse = Visiting Hours, Hotle = Hotel, Totlet= Toilet, Chanese = Chinese Food oder “Open your shoes“ und vieles mehr) immer wieder ein Lächeln entlockt.
Dorothée Söndgen