prajnaparamita

Prajnaparamita Hridaya – „Die Herzessenz der vollkommenen Weisheit“

Prajnaparamita, die Vollkommenheit der Weisheit, ist die höchste der sechs Vollkommenheiten. Um diese zu realisieren, entwickelt man die Erkenntnis der relativen Bestehensweise und der wahren Natur aller Phänomene, der Leerheit. Sie ist das direkte Gegenmittel gegen alle Arten von Leiden. Sie ist wie eine Medizin, die gegen sämtliche Krankheiten hilft.

Da alle körperlichen und geistigen Leiden aus den Verblendungen in unserem Geist entstehen und diese alle auf die Unwissenheit zurückzuführen sind, können keine Leiden und Ursachen des Leidens entstehen, wenn die Unwissenheit beseitigt ist. Durch das Verständnis und die direkte Erkenntnis der Leerheit wird die Wurzel aller Leiden beseitigt.

In einem Zitat von Nagarjuna heißt es:

"Außer infolge von abhängigem Entstehen existieren keine Erscheinungs-formen. Daher gibt es keine Erscheinungsformen, die nicht leer sind."

Das Verständnis der Bestehensweise der Person und der Phänomene wird durch eine genaue Analyse entwickelt, wobei man insbesondere die Existenzweise des eigenen Geistes untersucht. In Verbindung mit entsprechenden Übungen kann schließlich eine Meditationsstufe erreicht werden, die eine direkte Einsicht ermöglicht. Erst die Erkenntnis der Leerheit von Eigennatur kann uns endgültig aus dem Daseinskreislauf befreien.

Auch, wenn das Thema der Leerheit nicht leicht zu verstehen ist, können wir durch Erklärungen von buddhistischen Gelehrten und Meistern und das Studium von Texten und Kommentaren eine Vorstellung davon entwickeln, wie entsprechende Aussagen der buddhistischen Lehre zu interpretieren sind und welche Bedeutung die Entwicklung der Weisheit hat. Dadurch können falsche Vorstellungen und extreme Ansichten beseitigt und eine richtige Sichtweise entwickelt werden.

Die Texte zur Prajnaparamita stammen aus dem Zweiten Rad der Lehre, in dem der Buddha die Natur aller Dinge darlegte und insbesondere die Leerheit beschrieben wird. Die Texte zur Vollkommenheit der Weisheit wurden in unterschiedlich langen Versionen verfasst. Die kürzeste Version ist als Prajnaparamita Hridaya Sutra (Die Herzessenz der vollkommenen Weisheit, kurz: Herz-Sutra) in den Mahayana-Traditionen bekannt und enthält die Essenz aller Prajnaparamita-Texte. Sie beschreibt die vollkommene Erkenntnis und die direkte Einsicht in die absolute Realität aller Dinge, die vollkommene Meditation und das letztendliche Ziel der Verwirklichung der Buddhaschaft. Später entstanden zahlreiche Kommentare, die den Zusammenhang von Leerheit und abhängigem Entstehen genauer erläutern.

Auszug aus der Herz-Sutra:

Form ist Leerheit, Leerheit ist Form,
Form ist nichts anderes als Leerheit,
Leerheit ist nichts anderes als Form.
Genauso sind Empfindung, Unterscheidung, gestaltende Faktoren und Bewusstsein Leerheit.
Deshalb, Shariputra, sind alle Erscheinungen Leerheit, ohne Merkmale.
Sie haben weder Anfang noch Ende.
Sie sind weder unrein noch frei von Unreinheit.
Sie nehmen weder ab noch nehmen sie zu.
[…]

Deshalb gibt es kein Leiden, keine Ursache des Leidens, kein Aufhören des Leidens, keinen Weg, keine Weisheit, kein Erreichen und kein Nicht-Erreichen.
Deshalb Shariputra, weil es kein Erreichen gibt, halten sich alle Bodhisattvas an die Vollkommenheit der Weisheit.
Und weil es keine Unklarheit des Geistes gibt, haben sie keine Furcht.
Weil sie alle Fehler völlig überwunden haben, erreichen sie Nirwana.
Alle Buddhas der Drei Zeiten vertrauen auf die Vollkommenheit der Weisheit und erwachen dadurch voll und klar zur unübertroffenen, vollkommenen und vollständigen Erleuchtung.
[…]

Alles, was in Abhängigkeit entsteht,
ist unendlich und ungeboren,
weder nicht existent noch immer dauernd,
weder kommend noch gehend,
weder von mehrfacher noch von einer einzigen Bedeutung.
Alle Konzepte und Dualität sind zur Ruhe gekommen.
Vor der Lehre, den Worten des vollkommen erleuchteten Buddha
verneige ich mich.

Die höchste Weisheit wird verkörpert in der Großen Mutter (tib. Yum Tschenmo), der Mutter aller Buddhas. Das heißt, dass alle Buddhas aus ihr hervorgegangen sind. Sie ist die Essenz des Raumes, die als ungeboren und unaufhörlich beschrieben wird. Sie kann nur mit Hilfe der unterscheidenden Weisheit erfahren werden. Sie erscheint als Dharmakaya und wirkt für alle Lebewesen.

Prajnaparamita besitzt die Qualität, einen reinen, plötzlich entstehenden Meditationszustand der tiefen Erkenntnis entstehen zu lassen. Für diejenigen, die die Meditation durchführen, bewirkt sie, dass alle Verunreinigungen, die aus der Unwissenheit entstanden sind, beseitigt werden. Solange man dies nicht verwirklicht hat, verbleibt man weiter im Daseinskreislauf.

Durch die Prajnaparamita-Einweihung werden die Praktizierenden auf ihrem Weg dem Dharma näher gebracht. Daher wird in den tibetischen Traditionen im Zusammenhang mit den Erklärungen zur Vollkommenheit der Weisheit häufig auch eine Einweihung in Prajnaparamita zur Unterstützung der Praxis gegeben. Sie enthält die Kraft der ununterbrochenen Übertragungslinie, durch die die Praxis bis heute weitergegeben wurde.

Zusammenstellung aus Texten und Unterweisungen:
Tändsin Tschödrön Karuna (Elke Tobias), Herbst 2005

Aus Rundbrief 1/2006