Eine besonders wertvolle und intensive Meditations-Praxis ist das „Fastenritual (tib. Nyung Ne) des 1000-armigen Avalokiteshvara (tib. Chenresi)“. Diese Praxis ist eine sehr verbreitete Übung des tibetischen Buddhismus, die umfassend und tiefgründig ist. Sie gehört zum Kriya-Tantra, der ersten der vier Tantra-Klassen.
Eine besonders wertvolle und intensive Meditations-Praxis ist das „Fastenritual (tib. Nyung Nä) des 1000-armigen Avalokiteshvara[1] (tib. Chenresi)“. Diese Praxis ist eine sehr verbreitete Übung des tibetischen Buddhismus, die umfassend und tiefgründig ist. Sie gehört zum Kriya-Tantra, der ersten der vier Tantra-Klassen[2].
Im Kriya-Tantra wendet man Rituale und äußere Formen der Praxis zur Ansammlung von Verdiensten[3] an, um die Ursachen und günstige Umstände für die geistige Entwicklung zu schaffen. Sie sind die Basis und das Fundament für die fortgeschrittenen Übungen.
Im Carya-Tantra[4] erhält man Anweisungen zu inneren Übungen der Entwicklung des Geistes. Die dritte Tantra-Klasse, das Yoga-Tantra, enthält mehr Anweisungen zur Praxis der Meditation und weniger zu rituellen
Übungen. Schließlich konzentriert man sich im Anuttara-Yoga-Tantra auf die innere Sammlung und die Wahrnehmung der „Leerheit“[5]. Die Erkenntnis der Leerheit bezeichnet den natürlichen Zustand des Geistes, die letztliche Wirklichkeit aller Phänomene. Durch sie erkennt man die Buddha-Natur[6] und verwirklicht den Wahrheitskörper[7]. Dieser „Körper“ entspricht dem Zustand des Nirvana[8] im Hinayana[9], dem Shunyata[10] der Madhyamika-Schulen[11], dem Tathata[12] der Yogacara-Schulen und dem Begriff des Adibuddha[13] in den tibetischen Texten.
Die Übungen der höchsten Tantra-Klasse sind für Praktizierende mit besonders großem Scharfsinn und guten Fähigkeiten gedacht. Gleichzeitig sind sie dazu geeignet, besonders starke Hindernisse zu beseitigen. Sie eignen sich besonders in Zeiten mit ungünstigen Umständen dazu, durch die geschickte Verbindung von Weisheit und Methoden in relativ kurzer Zeit Fortschritte zu erzielen und Verwirklichungen hervorzubringen.
Das Fastenritual des Avalokiteshvara
Das Fastenritual des Avalokiteshvara ist leicht zu verstehen, sehr kraftvoll und eine grundlegende Basis für die fortgeschrittenen Übungen der höheren Tantra-Klassen. Anhand eines ausführlichen Textes, der die Beschreibungen zur Visualisierung enthält, werden Gebete, Opferungen und Niederwerfungen in Verbindung mit Avalokiteshvara (tib. Chenresi), dem großen Bodhisattva des Mitgefühls, durchgeführt.
Die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes (Skrt. Bodhicitta) ist die Wurzel und Grundlage, um die vollkommene Buddhaschaft zu erlangen und das liebevolle Herz des Mitgefühls, das durch den großen Avalokiteshvara verkörpert wird, ist die Wurzel dieser reinen Geisteshaltung. Das Mantra[14] von Avalokiteshvara (tib. Chenresi) verkörpert die fünf Weisheiten[15] der fünf Buddha-Familien[16]. Es führt zur Wiedergeburt in einem Reinen Buddha-Bereich und man erlangt weiteren zahlreichen Nutzen durch diese Praxis.
Die Praxis des Avalokiteshvara erfüllt die zwei Arten von Wünschen. Die vorläufigen Wünsche richten sich auf ein langes Leben, gute Bedingungen und eine gute Entwicklung (Wohlstand). Die absoluten Wünsche umfassen die Entwicklung der vollendeten Qualitäten wie Liebe, Mitgefühl und den Erleuchtungsgeist (Skrt. Bodhicitta). Dieser beinhaltet die reine Motivation, durch diese Praxis die vollkommene Buddhaschaft zu erlangen, um zum Wohle aller Wesen wirken zu können.
Die Durchführung des Fastenrituals stärkt unser ethisches Verhalten, lässt unser Bedürfnis nach den buddhistischen Lehren anwachsen und vertieft unsere Kontemplationen und Übungen. So kann sie zu tiefen Erfahrungen und schließlich zu den geistigen Verwirklichung führen. Sie bewirkt Frieden in der Welt, eine reine Umwelt und reinigt die vier Elemente, die die Basis des Lebens sind.
Ebenso wirkt sie heilsam bei körperlichen Krankheiten und geistigen Problemen. Es gibt zahlreiche Geschichten in den tibetischen Überlieferungen, die von der Wirksamkeit dieser Praxis berichten. So wurde die Bhikshuni[17] Gelongma[18] Palmo, auf die diese Praxis zurückgeführt wird, von Lepra geheilt. Die von Gelongma Palmo erstellte Praxis in Verbindung mit einem Fastenritual genießt große Beliebtheit und hohes Ansehen in den tibetischen Traditionen und ist inzwischen auch in westlichen Ländern bekannt geworden.
Durchführung
Die Durchführung der Praxis findet auf der Basis der Übertragungen durch eine Einweihung (tib. Wang) zum tausendarmigen Avalokiteshvara, die Texterlaubnis (tib. Lung) und die Belehrungen zur Praxis (tib. Tri) statt. Sie ist sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittene Dharma-Praktizierende geeignet.
Das Ritual besteht aus zwei aufeinander folgenden Tagen, die man mehrmals wiederholen kann. Die Übung beginnt am frühen Morgen mit dem Aufnehmen von Gelübden, die jeweils für einen Tag genommen werden. Diese beinhalten die Wurzelgelübde[19] und ergänzende Regeln[20], die die Wirksamkeit der Praxis unterstützen sollen.
Am ersten Tag (Nyung Ne) wird eine Mahlzeit am Mittag gegessen und man kann bis zum Abend etwas trinken. Am nächsten Tag (Nyung Ne) gibt es nur am frühen Morgen eine Reissuppe, um die im Körper lebenden Wesen zu nähren. Danach gibt es keine Speisen und Getränke mehr. Dann folgt wieder ein Tag mit der Praxis als Nying Ne usw.
Wenn mehrere Zyklen nacheinander ausgeführt werden, sollte man darauf achten, dass die verschiedenen feinstofflichen Energien nicht aus Unkenntnis aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Wer z.B. an einer Störung der körperlichen und geistigen Kräfte, wie sie z.B. in der tibetischen Medizin beschriebenen sind[21], leidet, sollte zunächst eine leichtere Form des Rituals durchführen. So kann man an beiden Tagen entsprechend dem Nying Ne praktizieren und bis zum Mittag essen oder man macht sich schrittweise mit den Übungen vertraut.
Wenn man auch am Abend Essen benötigt, kann man an den Rezitationen und Opferungen teilnehmen, ohne am Morgen die Fastengelübde zu nehmen. Dennoch sollte man sich an die anderen Regeln halten und die anderen Teilnehmer nicht stören. Wenn man mit den Rezitationen und Opferungen nicht vertraut ist, kann man den anderen zuhören, das Mantra rezitieren und/oder Verbeugungen durchführen.
So kann man mit Achtsamkeit und ohne Ehrgeiz seinen eigenen Fähigkeiten entsprechend auf unterschiedlichen Ebenen an der Praxis teilnehmen. Wenn man nicht selbst teilnehmen kann, hat es ebenfalls einen großen Nutzen, ein entsprechendes Retreat oder Dharma-Praktizierende zu unterstützen.
Das Ritual des Avalokiteshvara ist sehr tiefgründig und in den Texten wird erklärt, dass es von großem Nutzen ist, selbst wenn man nur das Sechs-Silben-Mantra von Avalokiteshvara rezitieren kann. Selbst jemand, der nur die Reissuppe für ein Fastenritual kocht, erwirbt bereits großes Verdienst.
Es ist hilfreich, wenn sich die Teilnehmer mit den Belehrungen vertraut machen und vor Beginn der Praxis den Ablauf besprechen. Wenn es möglich ist, sollte man im Zentrum übernachten, um nicht durch andere Aktivitäten abgelenkt zu werden.
Abschluss
Wenn man nur an einem Zyklus (2 Tage) teilnehmen möchte, führt man eine abschließende Übung am Vormittag des dritten Tages aus, ohne die Gelübde zu nehmen und schließt so die Meditation ab. Für diejenigen, die weiter praktizieren möchten, schließt sich hier der zweite Zyklus an, der am übernächsten Tag entsprechend mit der abschließenden Rezitation beendet wird. Entsprechend kann man mehrere Zyklen nacheinander durchführen.
Allgemein ist es hilfreich, wenn man sich nach einem Retreat noch den ganzen Tag zum Abschluss frei halten kann und nicht sofort wieder in Ablenkungen und Verpflichtungen des Alltags stürzt. So kann man den positiven Eindrücken, die im Geist entstanden sind, noch etwas Raum geben, um sich zu festigen und sie auf diese Weise mit in den Alltag hinein zu nehmen. Man kann sich ein schönes Essen zubereiten, in die Natur gehen oder einfach ausruhen. Wenn man etwas tun möchte, kann man seinen Meditationsplatz oder den Altar reinigen, seine Dharma-Texte ordnen oder Praxisgegenstände herstellen, reinigen oder reparieren oder am Abend für sich selbst noch einmal eine kurze Meditation durchführen. Danach versucht man, seine Achtsamkeit im Alltag aufrecht zu erhalten, um so seine Aufgaben mit Freude und Kraft wieder aufzunehmen.
Möge diese Praxis zum Wohle und Nutzen der Wesen durchgeführt werden, bis alle Wesen aus allen Bereichen des Samsara befreit sind. Sarwa Mangalam
[1] Avalokitshvara (Skrt.), (tib. Chenresi: Liebevolle Augen): der Bodhisattva des Großen Mitgefühls. Seine sechs Hände bedeuten die Hilfe in den sechs Daseinsbereichen. Alle 1.000 Hände sind mit Augen versehen, d.h. sie sehen die Leiden aller Wesen. Er hilft ihnen durch seine Weisheit. Die 10 Köpfe symbolisieren die Stadien des Bodhisattva-Pfades (Bodhisattva-Bumis) und der elfte die Buddhaschaft. Je drei Köpfe drücken Mitgefühl über das Leiden, Zorn über das Böse und Freude über das Gute aus. Buddha Amitabha an der Krone des Kopfes symbolisiert die welterleuchtende Weisheit als Ursprung und Ziel seines Wirkens. Der Bodhisattva Avalokiteshvara gehört wie Buddha Amitbha zur Lotus-Familie.
[2] Tantra (Skrt.): tib. Gyüd: «Faden/ Kontinuität», Tantrayana oder Vajrayana (Diamant-Fahrzeug): Richtung der Lehre des Buddha, die nach dem Sutrayana (Skrt. „Kleines“ Fahrzeug, Frühbuddhistische Ausbreitung, von der heute noch die Lehre des Theravada verbreitet ist) entstand und dem Mahayana (Skrt. „Großes“ Fahrzeug, das sich später entwickelte) zugeordnet wird.
[3] allgemein spricht man von zwei Arten der Ansammlung: die Ansammlung von Verdienst auf der relativen Ebene und die Ansammlung von vollkommener Weisheit (Einsicht) auf der absoluten Ebene. Die Ansammlung von Verdienst dient dazu, die nötigen Ursachen zu schaffen, um günstige Umstände für die weitere geistige Entwicklung zu finden.
[5] Leerheit: die letztliche Realität, in der bestimmte Eigenschaften verneint werden (Selbst-losigkeit der Person, Selbst-losigkeit der Phänomene)
[6] Buddha-Natur (Skrt. Tathagatagarbha): „Essenz“. Die Anlagen für die letztliche Aufgabe von Hindernissen und für das Erreichen von Erkenntnissen im Geist, die man als Essenz des Vollendeten bezeichnet. Diese Essenz durchdringt alle Wesen. Durch eigenes Bemühen kann sie soweit ausgeweitet werden, bis die Eigenschaften und Qualitäten eines Buddha hervortreten.
[7] Dharmakaya (Skrt.): „Wahrheitskörper“, das ursprüngliche Weisheitsbewusstsein. Dies ist frei von allen Behinderungen und Hindernissen. In ihr ist alle Unwissenheit zu Ende gegangen und sie ist mit der Gewissheit verbunden, dass diese Unwissenheit nicht mehr entstehen kann.
[11] Madhyamika-Schulen: Mahayana-Schule, das auf dem 2. Drehen des Rades der Lehre beruht, in dem der Buddha die Prajnaparamita-Sutras (Lehrrede des Buddha zur Vollkommenheit der Weisheit) lehrte
[12] Tathata (Skrt.): Soheit, die Erscheinungen, wie sie sind
[13] Adibuddha: „Ur-Buddha“; Urprinzip der Buddhaschaft; das jedem Wesen innewohnende Potential der Buddhaschaft; die Wahre Natur, die in unterschiedlichen Formen dargestellt wird. Die verschiedenen Aspekte der Erleuchtung werden in der Form von fünf Dhyani-Buddhas dargestellt. Als Essenz aller fünf Dhyani-Buddhas wird in manchen Schulen Vajrasattva (Skrt., tib. Dordsche Sempa), bei den Kadyüdpa Vajradhara (Skrt., tib. Dordsche Tschang) oder bei den Nyingmapa Samantabhadra (tib. Kuntu Sangpo) angewendet.
[14] Mantra (Skrt.), «Werkzeug zum Denken», «Schutz des Geistes», besondere Silben oder Worte, die verschiedenen Ausstrahlungen der Buddhas zugeordnet sind und auf Grund der Kraft ihres Klanges eine Wirkung entfalten.
[15] Fünf Buddha-Weisheiten: Dharmadhatu-Weisheit (gegen Unwissenheit), Spiegelgleiche Weisheit (gegen Hass), Weisheit der Gleichheit (gegen Stolz), Unterscheidende Weisheit (gegen Begierde), Alles-Vollendende Weisheit (gegen Neid).
[16] Fünf Buddha-Familien: Die verschiedenen Aspekte der Erleuchtung werden in den fünf Dhyani-Buddhas – Buddha Vairocana (tib. Nampar Namdsä), Buddha Akshobya (tib. Mikyöpa), Buddha Ratnasambhava (tib. Rintschen Dschungdän), Buddha Amitabha (tib. Öpame), Buddha Amogasiddhi (tib. Dönyö Drubpa) ausgedrückt, denen weitere Aspekte zugeordnet werden.
[17] Bhikshuni (Skrt.): voll ordinierte Nonne
[18] Gelongma (tib.): voll ordinierte Nonne, hier im Namen enthalten
[19] allgemeine Grundsätze, die ein Buddhist einhalten soll: nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, kein sexuelles Fehlverhalten und keine Mittel, die den Geist negativ beeinflussen (Alkohol, Drogen). Während des Fastenrituals wird die vierte Regel ausgedehnt und beinhaltet, dass man gar keinen sexuellen Verkehr durchführt.
[20] dazu gehört, dass man keinen Schmuck tragen soll, kein Parfüm benutzen und nicht auf hohen, prunkvollen Betten oder Stühlen sitzen oder liegen soll. Außerdem verspricht man, keine Nahrung zur unrechten Zeit zu sich zu nehmen. Das bedeutet allgemein, dass man nicht nach dem Mittag essen soll. Außerdem soll das Edle Schweigen eingehalten werden.
[21] „Wind“ (tib. Lung), „Galle“ (tib. Tripa), „Schleim“ (tib. Beken) sowie Kombinationen dieser drei bestimmen die Konstitution des Menschen. Störungen rufen Krankheiten hervor, die durch entsprechende Nahrung, das Beachten von Verhaltensweisen und ggf. durch ergänzende Mittel aus Pflanzen und Mineralien wieder ausgeglichen werden können.
Aus Rundbrief 1/2007