Tenzin Desels Flucht nach Samtenling

Ich wurde in einer Nomadenfamilie in Nagchu geboren. Ich war vierzehn Jahre alt, als meine Mutter starb. Ich war voller Kummer, als auch mein Cousin und mein bester Freund starben. Danach litt ich unter einer schweren Depression und mein Vater und meine Brüder baten einen Lama zu helfen. Es wurde ihnen gesagt, dass ich mich verändern und den Ort wechseln müsste und so entschloss ich mich eines Tages, mein Zuhause zu verlassen und zum heiligen Berg Kailash zu gehen. Eine ältere Frau half mir, einen Platz in einem Bus zu bekommen. Ich reiste mit ihr zum heiligen Berg Kailash und als sie sich entschieden hatte fort zu gehen, entschloss ich mich, an diesem heiligen Ort zu bleiben. Ein Yogi aus der Drikung Kagyü Linie nahm sich meiner an, damit ich seiner Frau bei der Hausarbeit helfen sollte und er brachte mir Gebete bei und gab mir ein paar Unterweisungen.

Während dieser siebzehn Jahre lebte ich in einer Höhle, ich umwanderte den heiligen Berg und den See und machte Niederwerfungen. Ich rezitierte viele Gebete und half den beiden. In diesem Zeitraum fasste ich den Entschluss, mich dem Dharma zu widmen und in dieser heiligen Region zu bleiben, anstatt zu meinem Vater zurück zu kehren.

Als ich mich im Gebiet des Kailash aufhielt, begegnete ich vielen Pilgern und hörte viele Geschichten über Seine Heiligkeit, dem Dalai Lama und über Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche. So entschloss ich mich, den Himalaya zu überqueren und nach Nepal und Indien zu reisen. Ein paar Leute begleiteten mich am Anfang meiner Reise, aber beim ersten Anzeichen von Schnee blieben sie zurück. Ich war entschlossen die Reise fortzusetzen und lief anderthalb Monate durch den Schnee, wobei ich mein Bettzeug, einige Kleidungsstücke und einen Beutel Tsampa (geröstetes Gerstenmehl) bei mir trug.

Es war schwer mit den Kleidern, die ich trug, im Schnee über die hochgelegenen Pässe zu gehen und mit Schnee, Eis und Tsampa den Hunger zu stillen. Es war eine einsame Reise. Ich schlief unter großen Felsen, manchmal grub ich mich unter Steinen ein, um nicht im Schnee zu schlafen, aber weil ich mich danach sehnte, die Lamas zu sehen, war ich fest entschlossen meinen Bestimmungsort zu erreichen.

Eines Tages erreichte ich, schon auf der nepalesischen Seite, einen schönen Platz, wo ich eine Pause einlegte. Ich muss einige Zeit geschlafen haben, als ich von einem jungen Mädchen geweckt wurde. Sie fragte mich, woher ich käme und was ich hier mache. Als ich ihr sagte, das ich vom Berg Kailash käme und nach Indien gehen wolle, um den Segen von Seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama und von Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche zu erhalten, sagte sie mir, dass Drikung Chetsang tatsächlich schon diesen Ort während seiner letzten Reise besucht hatte. Es gab dort einen großen Stein, der aussah wie ein Sitz, mit Gebetsfahnen, die an einer langen Stange hinter dem Sitz befestigt waren. Sie sagte mir, dass er auf diesem großen Stein gesessen habe, ganz in der Nähe des Platzes, wo ich geschlafen hatte. Ich war von Freude überwältigt und wusste, dass ich ihn jetzt treffen würde. Dieser Ort war Limi.

Die Menschen in Limi waren so freundlich mich aufzunehmen und halfen mir, nach Kathmandu zu kommen. In der Aufnahme für neue tibetische Flüchtlinge kümmerte man sich gut um mich, aber eines Tages schwollen meine Beine an und ich hatte starke Schmerzen. Dann erkrankte ich an einer Infektion in der Kehle. Bald war es an der Zeit, mit anderen Flüchtlingen in den Bus zu steigen, um nach Dharamsala in Indien zu fahren. Ich erhielt zusammen mit anderen tibetischen Flüchtlingen eine Audienz bei S.H. dem Dalai Lama, bekam eine Behandlung für meine Kehle und wurde für eine Operation nach Delhi geschickt.
Als ich nach der Operation nach Dharamsala zurückkehrte, wurde ich im Auffangzentrum für neue Flüchtlinge betreut. Dort bekam ich eine Halsentzündung, so dass ich viele Schmerzen hatte, wenn ich aß oder trank. Ich verlor Gewicht und ich glaubte ich würde sterben, aber ein Beamter des Auffangzentrums – Chögyäl La – half mir, den Segen von S. H. dem Dalai Lama zu bekommen. Seine Heiligkeit war so freundlich; er gab mir ein paar kostbare Pillen, etwas heiliges Wasser zum Trinken und sagte, dass er seinen Mitarbeitern sagen würde, sie sollten mich ins Krankenhaus des Tibetan Medical Institute bringen.

Ich war fast ein Jahr lang Patient im Tibetan Medical Institute bis mein Hals wieder seinen normalen Umfang hatte und ich wieder reden und gehen konnte. Als es mir viel besser ging, wurde ich gefragt, zu welchem Kloster ich gehörte. Natürlich gehörte ich zu keinem Kloster, aber ich hatte siebzehn Jahre am Berg Kailash verbracht und einem Drikung-Yogi und seiner Frau im Haus geholfen und sie hatten sich um mich gekümmert. Ich erzählte diese Geschichte und das Institut schickte mich zum Drikung Kagyü Kloster in Dehra Dun, wo ich Kyabgön Chetsang Rinpoche nach seiner Rückkehr aus Ladakh traf. Er sagte zur Leiterin des Nonnenklosters, sie solle sich um mich kümmern.

Ich bin jetzt in diesem Nonnenkloster. Eine amerikanische Akupunkteurin – Dr. Marsha Wolfe, eine Freundin der Direktorin – nahm mich für eine umfassende medizinische Behandlung mit nach Delhi und man sagte mir, dass meine Schilddrüse entfernt worden war, es aber jetzt keine Spur von Krebs in meinem Körper gäbe. Ich leide an Schwäche und kalten Gliedern, nachdem ich während des Flugs dem nasskalten Wetter ausgesetzt war. Ich habe auch ein Problem mit meinem Magen, aber ich nehme Ergänzungsmittel für die Schilddrüse und Vitamine sowie traditionelle tibetische Medizin.

Ich teile mir hier einen Raum mit zwei anderen Frauen und alle sind sehr nett zu mir. Ich erhole mich und rezitiere in meiner freien Zeit Tara- und Mani-Gebete. Ich nehme auch manchmal an den Gebetssitzungen und am Kunstkurs teil. Es war für mich eine große Freude, an den vollständigen Hevajra-Belehrungen vor kurzem teilzunehmen.

Übersetzung von Heinz-Werner Goertz, 2006

Aus Rundbrief 3/2006