Die übliche Methode der Geist-Unterweisung hat zwei Teile:
- Unterweisungen für überragende Wesen, die sich in ihren früheren Leben in Samadhi geübt haben und die frühere Praxis fortsetzen müssen.
- Unterweisungen für gewöhnliche Menschen wie mich, die keinerlei Verdienst haben.
Bei überragenden Wesen geschieht der Samadhi des ruhigen Verweilens in Einheit mit besonderer Einsicht spontan, einfach durch das direkte Schauen auf die Natur jedweder entstehenden Gedanken, sobald sie zu entstehen beginnen. Die Überlieferung berichtet von zahllosen Menschen, deren Verwirklichung ihnen aus der Weite zuströmte, wie zum Beispiel Saraha im alten Indien, Milas Schüler Repa Sangye Kyab, Drubchen Lingrepa, Gyalwa Yangonpa, der Erhabene Lachiwa in Tibet und so weiter. […]
Auf der anderen Seite ist es nicht gut für gewöhnliche Menschen, die wie ich keine Übung in der Meditation aus vergangenen Leben geerbt haben, direkt auf die Natur jedweder entstehenden Gedanken zu schauen. […] So praktizierte ich fünf lange Jahre fleißig, indem ich direkt auf die entstehenden Gedanken schaute, da mir dies ein wenig einfacher schien. Indem ich so praktizierte, entwickelte ich, mit Ausnahme einer geringen Verbesserung meines Verständnisses des wesentlichen Punkts in der Sicht der Leerheit, keinerlei wirkliches Vertrauen. Es war, als würde man geröstetes Getreidekorn in die Pfoten eines Hundes legen.
So musste ich wieder ganz von vorne anfangen wie ein junger Novize und ruhiges Verweilen mit Bezugspunkt wie zum Beispiel einem Kieselstein und so weiter üben. Deshalb ist es heutzutage für Anfänger in der Meditation, die nicht viel Übung aus vergangenen Leben besitzen, nicht gut, die Älteren – die großen Meditierer – nachzuahmen und sich damit zu begnügen, direkt auf jedwede entstehenden Gedanken zu schauen. Das ist nicht gut, da es so [ähnlich] ist, wie einen Schuh mit einem Hut zu bedecken.
Dies ist so, weil direkt auf die Natur jedweder entstehenden Gedanken zu schauen eine Übung ist, um die Meditation aufrecht zu erhalten, die schon entwickelt worden ist. Es ist keine Übung für jene, für die Meditation etwas Neues ist. Direkt auf die Natur jedweder entstehenden Gedanken zu schauen, ist die Praxis der besonderen Einsicht und wenn man dies wiederholt ausführt, wird man niemals die Stabilität des ruhigen Verweilens entwickeln. Selbst wenn sich etwas Stabilität entwickelt, mag man eine vollkommene Sicht der Natur des Geistes haben, aber sie wird nicht lange andauern. Wie beim Entzünden einer Lampe im Sturm, wird sie zittrig sein und nicht länger dauern als ein Blitz in der Dunkelheit und keine Meisterschaft in der Meditation einbringen.
Aus diesem Grund lehrte der Buddha im ‚Sutra der Vollkommenheit der Weisheit’, nacheinander, zuerst Samadhi und dann Weisheit-Gewahrsein.
Der Siegreiche Maitreya sagte:
„Das Spätere entsteht in Abhängigkeit vom Früheren.“
So lehrte er also auch, das Weisheit-Gewahrsein in Abhängigkeit von Samadhi, der zuerst kommt, entsteht.
Das Sutra ‚Gawo tritt in den Mutterleib ein’ besagt:
„Wenn einem der Geist der Gemütsruhe fehlt,
fehlt einem das absolut reine ursprüngliche Gewahrsein
und so wird man nicht fähig sein, die Befleckungen aufzugeben.“
Wie gesagt, wenn einem die Gemütsruhe des ruhigen Verweilens fehlt, wird sich die Erkenntnis der besonderen Einsicht nicht entwickeln und so wird man die Befreiung nicht erlangen.
Auch der große indische Meister Kamalashila sagte:
wird der Geist des Yogi durch Gegenstände abgelenkt
und wird sich, wie eine Lampe im Wind, niemals stabilisieren.“
Wie dies in Kürze besagt, wird die Meditation an der Wurzel abgetrennt, wenn man direkt auf jedwede entstehenden [Gedanken] schaut, bevor ein wenig Stabilität des Geistes erreicht wurde. Solch ein Versuch ist wie der Wunsch das zweite Stockwerk eines Hauses zu errichten, bevor das erste Stockwerk gebaut wurde. […]
Auf der Anfängerstufe der Übung des ruhigen Verweilens werden Gedanken als Feinde betrachtet und abgewehrt und [der Geist] wird so in eine Dimension ohne Gedanken versetzt. Auf der Stufe der eigentlichen Meditation werden Gedanken in den Pfad integriert, indem man direkt auf ihre Natur schaut, ohne sie als Fehler zu betrachten oder sie abzuwehren. Mit anderen Worten, man hat Freundschaft mit ihnen geschlossen. Deshalb gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen diesen beiden [Stufen]. Demnach sollten Gedanken auf der Stufe der eigentlichen Meditation nicht aufgegeben werden, denn je mehr entstehen, um so mehr Qualitäten werden [auch] entstehen. […]
So gibt es viele Unterweisungen gegen das Aufgeben von Gedanken. All diese Unterweisungen treten jedoch dafür ein, dass direkt auf die Natur der Gedanken geschaut wird, während ein Zustand der Meditation aufrecht erhalten wird, der bereits entwickelt wurde. Sie meinen keineswegs, dass gewöhnliche Menschen bereits am Anfang direkt auf jedwede entstehenden Gedanken schauen sollten.
Der Erhabene Goe Tsangpa sagte:
„Richte den Geist auf die Verworrenheit, wenn er verworren ist;
richte ihn auf die Klarheit, wenn er klar ist;
richte ihn auf die Leerheit, wenn er leer ist;
richte ihn auf die Trübung, wenn er getrübt ist.“
Es gibt viele Kernunterweisungen wie diese von den Siddhas der Vergangenheit, die einzig die Wichtigkeit der Selbst-Befreiung aller entstehenden Gedanken, ohne nach ihnen zu greifen, betonen, aber nichts Wesentliches über den Geist sagen. [Diese Unterweisungen] wurden außerdem ihren persönlichen Schülern als mündliche Anweisungen gegeben, um den Zustand der Meditation, den sie entwickelt hatten, aufrechtzuerhalten, aber sie bedeuten nicht, dass gewöhnliche Menschen dies bereits am Anfang tun sollten. […]
Wenn man einfach durch Hören der Worte ‚Mahamudra’ und ‚Mahasandhi’ Befreiung erlangen könnte, ohne irgendeine notwendige Ansammlung von Verdienst, dann würden selbst die Mönche, die spirituelle Dienste bei den Menschen zuhause ausführen, ohne irgendeine Meditation befreit, da sie die ganze Zeit das ‚Sutra der Vollkommenheit der Weisheit’ rezitieren. Wenn man deshalb beabsichtigt, vollkommene Tugend zu üben, ist es wichtig sicherzustellen, dass man entsprechend der richtig verstandenen Reihenfolge praktiziert, ohne den bereits erwähnten falschen Rückschlüssen zu folgen.
Kurz, ob man mit Anstrengung meditiert oder nicht, wenn man die wahre Natur des Geistes gesehen hat und darin durch die Übung in früheren Leben und den Segen des Guru Stabilität erlangt hat, dann gibt es keine bessere Übung, als direkt auf jedwede entstehende Gedanken und dergleichen zu schauen. [..] Andererseits ist direkt von Anfang an auf die Natur jedweder entstehenden Gedanken zu schauen und dies als ausreichend zu betrachten für gewöhnliche Menschen überhaupt keine echte Art der Meditation, sondern nur der Wunsch nach Meditation.
Dies ist der Grund: Zunächst wird der Zustand des ruhigen Verweilens nicht erreicht, da geistige Stabilität nicht erlangt wurde, infolge des Fehlens der Bemühung sie zu erringen. Alsdann wird der Zustand der besonderen Einsicht nicht erreicht, da die Bemühung fehlt, den Geist zu finden, und es überhaupt keine Erkenntnis über den wesentlichen Punkt der Sicht gibt; so wird die Natur des Geistes nicht erkannt. Demnach ist es ein großer Fehler, vorzugeben zu meditieren mit der Einbildung, man hätte die Stufen des ruhigen Verweilens und der besonderen Einsicht [erlangt], ohne dass dies tatsächlich so ist.
Dies habe ich gesagt, weil ich festgestellt habe, dass viele Menschen nicht imstande sind zu unterscheiden zwischen der Art, wie ein großer Praktizierender auf einer fortgeschrittenen Stufe der Meditation üben sollte und der Art, wie ein Neuling auf der anfänglichen Stufe der Meditation üben sollte. Ob dies zutrifft oder nicht kann man herausfinden, indem man Bezug zu den umfangreichen [Unterweisungstexten] über die Stufen der Meditation nimmt und [auch] indem man ein Experiment durchführt, [um zu sehen] ob es nützlich für den eigenen Geist ist oder nicht.
[Es folgen die Erklärungen der eigentlichen Methode der Übung des ruhigen Verweilens, die Methoden zum Erreichen von Samadhi durch ruhiges Verweilen, der Hauptteil der Meditation mit Erklärungen zu den verschiedenen Stufen usw. Zum Abschluss heißt es:]
Dies sind meine Schlussfolgerungen aus meiner langwierigen Untersuchung vieler hervorragender Werke früherer Kagyü-Meister und aus den Lehren, die ich von meinem Wurzel-Guru gehört habe, dem glorreichen Vajradhara Dawa Dragpa, Herr der Praxis-Linie, und von seinem engsten Schüler, dem großen Bodhisattva Konchog Tharchin Rinpoche, und die ich bis ins kleinste Detail niedergeschrieben habe. Hinzu kommt mein eigenes Verständnis und meine Erfahrung, ohne etwas zurückzuhalten und mit der Absicht, anderen zu nutzen.
Verschiedene Unterweisungstexte beinhalten ausführliche oder vereinfachte Übersichten und viele verschiedene Arten, die Konzentration [auf einen Bezugspunkt] zu richten. Es gibt jedoch keinen wichtigen Punkt in der Vorgehensweise beim Üben des ruhigen Verweilens, der bei der vorhergehenden Besprechung fehlt. Man kann also zufrieden sein!
Sarva Mangalam!