Es war der höchste und vollkommene, erleuchtete Buddha, der diese Tantras darlegte, um damit die verschiedenen Geistesgifte, die in den Wesen vorhanden sind, zu beseitigen und sie zur höchsten Erleuchtung zu führen. Es gibt verschiedene Klassifizierungen der Tantras. Die bekannteste Unterteilung ist die Unterteilung in vier Tantra-Klassen: Kryatrantra, Charyatantra, Yogatantra und Anuttaratantra. Von diesen vier ist das Anuttaratantra die höchste und bedeutendste. Diese wird weiter unterteilt in: Vater-Tantra, Mutter-Tantra und untrennbares Tantra. Das Mutter-Tantra enthält wiederum verschiedene Tantras, zu denen auch Chakrasamvara gehört.
Es gab in Indien sehr viele Meister des Chakrasamvara-Tantra und zahlreiche Übertragungslinien. Viele dieser Tantras wurden nach Tibet gebracht und sind in den tibetischen Traditionen bis heute überliefert. Die Chakrasamvara-Praxis mit fünf Gottheiten ist eine der wichtigsten Methoden in der Übertragungslinie der Kagyüpa. Speziell innerhalb der Drikung Kagyü Schule ist Chakrasamvara ein sehr viel praktizierter Deva. Wenn man den fünfteiligen Mahamudra-Pfad (tib. Ngaden) praktiziert, ist er der Haupt-Deva. Später, bei der Praxis der sechs Yogas von Naropa, ist es Vajrayogini (tib. Dorje Naljorma).
Die Praxis
Allgemein gibt es in den Tantras zwei Stufen:
- die Einweihung (Ermächtigung), die den Geist heranreifen lässt;
- die Erklärungen der verschiedenen Stufen der Praxis.
Die Erklärungen umfassen wiederum zwei Teile:
- die Erklärungen zur Erzeugungs- oder Entwicklungsstufe (tib. Kyerim);
- die Erklärungen zur Vollendungsstufe (tib. Dzogrim).
In der Entwicklungsstufe der Meditation werden die Phänomene, die auf der relativen Ebene vorhanden sind, genutzt, um die letztendliche, höchste Erkenntnis zu erlangen. In der Vollendungsstufe beschäftigt man sich hauptsächlich mit der letztendlichen Wirklichkeit, die frei von allen Bedingungen ist. Dadurch erkennt man auch die relative Ebene. So kann man sagen, dass die beiden Stufen nicht voneinander getrennt sind. Das bedeutet, dass wir die Vollendungsstufe bereits einbeziehen, wenn wir die Entwicklungsstufe praktizieren.
Es gibt zwei unterschiedliche Arten der Vollendungsstufe:
- die Vollendungsstufe mit Zeichen und Symbolen;
- die Vollendungsstufe ohne Zeichen.
Die sechs Yogas von Naropa gehören zur Praxis der Vollendungsstufe mit Zeichen. Die Vollendungsstufe ohne Zeichen bedeutet, dass wir im letztlichen Zustand der Wirklichkeit, der frei von Bedingungen ist, der Mahamudra, verweilen.
Warum praktizieren wir die Entwicklungsstufe der Meditation? Wir haben seit anfangsloser Zeit eine sehr starke Anhaftung an unser Selbst, an unserem eigenen Körper und an die Dinge, die uns umgeben. Durch diese Anhaftung entstehen sehr viele Leiden und Schwierigkeiten sowie unbequeme Situationen. Wir haben falsche Ansichten in Bezug auf die tatsächliche Bestehensweise des Selbst und aller Phänomene, die uns umgeben. Um diese falschen Ansichten zu durchschneiden und die falschen Auffassungen zu zerstören, praktizieren wir die Visualisierung usw. Damit können wir die Wurzel der Leiden durchschneiden.
Das Konzept des Selbst ist ein sehr starkes Konzept, das wir seit anfangsloser Zeit haben und daher ist es nicht leicht, es zu durchschneiden. Darum wird immer wieder betont, dass man sich ständig als Deva [1] visualisieren soll. Dazu dient auch das Samaya (tib. Damtsig: Gelübde des Vajrayana), das wir mit der Einweihung erhalten. Das Samaya ist nicht dazu gedacht, uns eine Regel aufzulegen, sondern es dient dazu, dass wir den festen Entschluss fassen, diese Praxis auszuführen und dadurch zu einer Erkenntnis der Wirklichkeit zu kommen.
Wenn wir die Praxis eines Deva eine Zeitlang intensiv ausgeführt haben, kommen wir zu einer tiefen Erfahrung des Deva. Gleichzeitig kommt ein Gefühl großer Klarheit und grenzenloser Freude auf. Dann kann es passieren, dass wir an diesen Zustand Anhaftung entwickeln und ihn beibehalten wollen. Weil wir an den jeweiligen Deva Anhaftung haben können, ist es wichtig, dass wir die Vollendungsstufe der Meditation praktizieren. Damit können wir diese Anhaftung durchschneiden. Wenn wir diese Anhaftung nicht abschneiden, werden wir in den höheren Götterbereichen wie z.B. im Bereich der Form wiedergeboren, aber wir bleiben im Kreislauf von Samsara gefangen. Die Entwicklungsstufe der Meditation dient also dazu, unsere gewöhnlichen Konzepte der Wirklichkeit zu durchschneiden und die Vollendungsstufe dient dazu, die Anhaftung an den Zustand der Freude und Klarheit ebenfalls zu durchschneiden, um den letztlichen Zustand aller Phänomene und des Geistes zu verwirklichen.
Allgemein wandern wir aufgrund unserer Anhaftung in den drei Bereichen der Existenz im Samsara. Deshalb müssen wir unsere Anhaftung genau erkennen. Dazu dient die Dharma-Praxis. Sie ist nicht dazu gedacht, dass wir nur einen ruhigeren Geist oder einen friedlichen Zustand erreichen. Das soll auch geschehen, aber der eigentliche Sinn ist, dass wir unsere Anhaftung vollkommen durchschneiden. So soll man die verschiedenen Stufen langsam ansteigend praktizieren, bis der Zustand in der Entwicklungsstufe und der Vollendungsstufe vollkommen eins sind.
Die Entwicklungsstufe umfasst die Grundlagen (Basis), die für die Praxis notwendig sind, Methoden zum Abschneiden von Hindernissen und Störungen sowie die Verwirklichung der vollkommenen Erkenntnis der Wirklichkeit. Durch unsere gegenwärtigen befleckten Gedanken nehmen wir diese letztliche Wirklichkeit nicht wahr. Man praktiziert, um die Wolken der Verdunkelungen zu beseitigen und zur Klarheit zu kommen. Wenn man erkennt, was die Wirklichkeit aller Phänomene ist und was die letztliche Wirklichkeit überhaupt ist, hat man das Resultat dieser Übung erlangt.
Die Praxis des Deva (tib. Yidam) ist die zweite Stufe der Praxis des tiefgründigen fünfteiligen Mahamudra-Pfades (tib. Ngaden). Sie ist notwendig, um alle Siddhis (skr., geistige Errungenschaften) zu entwickeln. Die eigentliche Aufgabe ist, unsere falschen Konzepte der Wirklichkeit zu läutern und zu reinigen. Bis man den letztlichen Zustand aller Phänomene und des Geistes erkannt hat, muss man die Methoden der Entwicklungsstufe und der Vollendungsstufe praktizieren.
Auf diese Weise sind diese Aussagen und diese Praxis durch die Übertragungslinie der Segenüberlieferung bis zu den heutigen Meistern fortgeführt worden und so soll man es auch praktizieren.
Anmerkungen
Zur Durchführung der verschiedenen Stufen der Praxis gibt es zahlreiche Kommentare und kurze oder ausführliche Unterweisungen, die auf diesen Kommentaren beruhen. Im Mantra-Fahrzeug ist es wichtig, von einem qualifizierten Lehrer die Übertragungen aus einer ungebrochenen Linie zu erhalten und seinen Instruktionen zu folgen, um in der richtigen Weise zu praktizieren und Fehler zu vermeiden.
Neben der Praxis von Chakrasamvara, die anhand von kurzen oder langen
Sadhanas durchgeführt werden kann, visualisiert man sich auch in anderen Übungen als Chakrasamvara. Dazu zählen z.B. die regelmäßige Praxis des Guru Yoga von Jigten Sumgön und die Darbringung von Tormas und Trankopfern in der Dharmapala-Puja, wie sie in unserem Zentrum seit vielen Jahren ausgeführt werden. Um sich als Deva zu visualisieren, benötigt man die notwendigen Übertragungen des Vajrayana.
Früher wurden viele der tiefgründigen Tantras geheim gehalten und große Einweihungen, die mit der Erstellung eines Mandala und anderen Vorbereitungen verbunden sind, werden auch heute noch sehr selten gegeben. Es gibt aber Möglichkeiten, die Übertragung auch in kurzer Form durchzuführen. Daher ist es eine außergewöhnliche Gelegenheit, dass Drubpön Kunsang vom 3.-6. Oktober 2024 eine Einweihung und kurze Erklärungen zur Praxis von Chakrasamvara in Drikung-Zentrum in Aachen gibt. Es ist das erste Mal überhaupt, dass dies in unserem Zentrum stattfindet, und wir können uns glücklich schätzen, das Karma zu haben, daran teilnehmen zu können.
[1] Dies kann auch ein anderer Deva (tib. Yidam) wie z.B. Avalokiteshvara (tib. Chenresig), Tara (tib. Dölma) usw. sein.
Zusammenstellung aus Unterweisungen von S.H. Drikung Kyabgön Chetsang zur Einweihung von Chakrasamvara, die er 1986 gab
und Anmerkungen von Tändsin T. Karuna