Jigten Sumgon1 sw

„Öffentliche Dharma-Unterweisungen“ von Jigten Sumgön

Aufzeichnungen von Ön Sherab Jungne1

Auszug aus der Übersetzung von Claude Jürgens

 

Zur philosophischen Lehre der Kagyü-Schule

Erscheinungen sind eigener Geist2

Weiterhin sprach der Kostbare Spirituelle Lehrer3:

„Die philosophische Lehrmeinung der Kostbaren Linie4, die den Traditionen der Großen Wagen5 gleichkommt, lautet ‘Erscheinungen sind eigener Geist’6 “.

Wenn man diese philosophische Lehrmeinung, „Erscheinungen sind eigener Geist“, verstanden und verwirklicht hat7, wird man zum Anhänger der Linienhalter und wenn man die Lehrmeinung nicht kennt, wird man – obschon als Anhänger bezeichnet – nicht deren Anhänger sein. Deshalb sagte der Kostbare Schützer der Wesen8 in Übereinstimmung damit weiterhin:

„Weiß der wertgeschätzte Sohn nicht
um die kostbare Schatzkammer des Vaters,
wird er zwar als wertgeschätzt bezeichnet,
aber es ist nichts als ein Name.“

Infolgedessen ist dies eine Lehre, die verstanden werden muss. Darüber hinaus schilderte der Meister Phagmo Drupa:

„(Vergleicht man) uns beide, Gampopa und mich, sind zwar aus jeglicher Perspektive meine Fähigkeiten besser; was aber unsere früheren Leben angeht, in denen wir als zwei Pandits Geburt annahmen, siegte jene frühere Wiedergeburt von Meister Gampopa, als wir über eine Äußerung debattierten. Indem ich daraufhin eine Lektion zu der Äußerung empfing, ging ich mit ihm eine Lehrer-Schüler-Beziehung ein.“

Hierzu erklärte Jigten Sumgön:

„Der ehrbare Phagmo Drupa ist identisch mit den Tathagatas der drei Zeiten, dem früheren Buddha Krakacchandha, dem noch nicht erschienenen Tathagata Akshobya Raja Bhaishajyadeva und dem Bhagavan Shakya Raja der Gegenwart. Weiterhin ist der Grund, warum er dem Meister Gampopa in Untergebenheit begegnen musste, jene wirkungsvolle Äußerung, dass Erscheinungen nichts anderes als eigener Geist sind."9

Nun man mag sich fragen, was „Erscheinungen sind eigener Geist“ bedeutet. Nehmt dies als Grundlage: Solange Geist existiert, solange existieren Erscheinungen. Existiert Geist, existieren Erscheinungen.

Was (die Aussage) „Solange Geist existiert, existieren Erscheinungen“ angeht, existieren Erscheinungen von Hungergeisterbereichen, wenn eine gierige Geisteshaltung10 existiert. Erscheinungen von Höllenbereichen existieren, wenn eine hasserfüllte Geisteshaltung existiert. Erscheinungen von Tierbereichen existieren, wenn eine verblendete Geisteshaltung existiert und Erscheinungen der Brahma-Welten existieren, wenn eine liebvolle Geisteshaltung existiert. Folglich sind Erscheinungen, da sie nicht im Äußeren existieren, eigener Geist.

Einige vertreten zwar, dass Erscheinungen wirklich existieren. Wie aber ist das möglich? Es existiert nichts anderes als Geist, der als Äußeres erscheint.

Da der Kostbare Schützer der Wesen den spirituellen Lehrer Minyag Gomrin fragte, inwiefern für den Ehrwürdigen Kostbaren11 Erscheinungen eigener Geist sind, antwortete er: „Lieber Freund12, da Erscheinungen nicht im Äußeren existieren, sind sie eigener Geist, nicht wahr?“ Dadurch, sagte er, wurde er sich darüber bewusst, dass (Minyag Gomrin) ein Nachkomme jenes Vaters ist.13

Wenn man nun denkt, dass es die Vielfalt an Erscheinungen, die (beispielsweise) als weiß oder rot auftreten, tatsächlich gibt, ist eben das eigener Geist. Es ist die Art und Weise, wie man etwas wahrnimmt. Haltet Erscheinungen infolgedessen nicht für äußerlich vorhandene Objekte. Obwohl nämlich Götter den Ganges-Fluss als Nektar, Menschen ihn als Wasser und Hungergeister ihn als flüssiges Kupfer, Eiter oder Blut ansehen, verändert sich der Ganges-Fluss nicht. Da das die Natur des individuell angesammelten (Karmas) und die Art und Weise unserer Wahrnehmung ist, sprach der Bhagavan Natha Maitreya:

„Die Erscheinung (der Buddhas) ist überhaupt nicht
von konzeptioneller und sich wandelnder14 Natur.
Dennoch existieren sie zum großen Nutzen
für die Welt tatsächlich in dieser Weise.
Sagt man: ‘Diese erscheinen als eigener Geist’,
verstehen es die gewöhnlichen Wesen eben nicht.“

Die gewöhnlichen Wesen wissen nämlich nicht, dass Erscheinungen eigener Geist sind. Ferner lehrte einst der Bhagavan, nachdem er sich auf einem auf dem Geiergipfel in Rajagriha errichteten Löwenthron niedergelassen hatte, die Prajnaparamita. Unterdessen war es, als ob sich dieses „Universum der Nachsicht“15, das Große Tausendfache, das 10003-fache Weltensystem16 (und der Bhagavan) in das Universum „Mit Lotusblumen ausgestattet“17  (und in) den Tathagata „Ausgezeichnete Lotusblume“ verwandeln, dennoch wurde es nicht in dieses Universum „Mit Lotus-Blumen ausgestattet“ übertragen.

Zudem sprach der Vorangegangene Meister18:

„Gelegentlich ist dieses Flusstal von Ngamshö ein Untergrund von glühendem Eisen
und gelegentlich ist Ngamshö der Bereich Akanistha.“

Das sind keine Aussagen, die im Widerspruch stehen. Während hasserfüllte Gedanken aufkommen, ist das Flusstal von Ngamshö ein Untergrund von glühendem Eisen. (Im Bodhicaryavatara heißt es ):

„Der Muni20 sprach:
’Wer hat einen Untergrund von glühendem Eisen erzeugt?
Durch wen sind jene Feuermassen21 entstanden?
Alles dem Gleichende ist unheilsamer Geist.’“

Der Bereich der Höllen wurde von daher nicht nach Ngamshö übertragen. Das Flusstal von Ngamshö ist nicht woanders hingewandert. Während man in Meditation über den Erleuchtungsgeist verweilt, ist (Ngamshö) zwar der Bereich Akanistha, aber der Bereich Akanistha wurde nicht nach Ngamshö übertragen.

Also kommt es in Folge des individuell angesammelten (Karmas) und der Art und Weise, wie man etwas wahrnimmt, derart zustande: Die gewöhnlichen Wesen sind mit einem Geist ausgestattet, der Erfasstes und Erfassendes mannigfaltig (wahrnimmt). Hörer sind mit einem Geist ausgestattet, der, die Vier Wahrheiten  wahrnehmend, das Aufzugebende und die Gegenmittel  akzeptiert. Für sie sind Erscheinungen dieses Geistes existent. Die edlen alleinverwirklichenden Buddhas sind mit einen Geist ausgestattet, der die zwölf Glieder des Abhängigen Entstehens24 wahrnimmt. Für sie sind Erscheinungen dieses Geistes existent. Die Bodhisattvas sind durch den relativen Erleuchtungsgeist mit einem Geist ausgestattet, der wünscht, dass alle fühlenden Wesen, deren (Anzahl der Unendlichkeit des) Raumes gleicht, Glück besitzen, getrennt sind vom Leid und die unübertroffene Erleuchtung erlangen mögen. Für sie sind Erscheinungen dieses Geistes existent. Da die vollkommen vollendeten Buddhas, die Bhagavans, frei von einem Geist sind, sind sie frei von Erscheinungen; aufgrund dessen sprach der Vorangegangene spirituelle Lehrer25:

„Gewöhnliche Wesen sind in den Fesseln von Erfasstem und Erfassendem gefangen.
Hörer gehen Ozeanen von Trugbildern nach.
Alleinverwirklichende Buddhas (sehen) dort Steinhaufen, wo Menschen sind.
Bodhisattvas (nehmen) traumgleich paradiesische Haine (wahr).
Buddhas wissen um die Befreiung von den Konstrukten.“

Abgesehen von den Buddhas, den Baghavans, sind sogar noch Schützer auf der zehnten Ebene26 mit Geist ausgestattet. Da sie mit Geist ausgestattet sind, sind sie mit Erscheinungen ausgestattet. Diese werden kognitive Verschleierungen genannt. In der Sprache der Unbedachten wird der Geist (selbst) Verschleierung27  genannt. Der Vorangegangene spirituelle Lehrer sprach weiterhin:

„Der Beste der Zweifüßler28 ist von Erscheinungen frei.
Für Bodhisattvas existieren sie in der Nachmeditation.“

Aufgrund dessen heißt es, obwohl meditatives Gleichgewicht frei von Erscheinungen ist, sind sie im Anschluss vorhanden. Folglich existieren Erscheinungen, solange Geist existiert. Ist kein Geist vorhanden, sind keine Erscheinungen vorhanden.

Fragt man, welche Analogie dem entspricht, ist es mit einer Reflexion und einem Spiegel gleichzusetzen: Im Spiegel erscheint das gesamte Gesicht dementsprechend wie es beschaffen ist, weiß oder rot und dergleichen. Und solange Geist nicht vorhanden ist, sind keine Erscheinungen vorhanden: Ist auf seiner Oberfläche29 keine Reflexion zustande gekommen, wurde im Spiegel die Wiedergabe des gesamten Gesichtes unterbunden.

Dieser Analogie entsprechend ist ein vollkommen vollendeter Buddha frei von Geist. Da er frei von Geist ist, ist er frei von Erscheinungen. Zu der Zeit, zu der er dies verstanden und verinnerlicht hat, existiert hinsichtlich sämtlicher Phänomene nicht einmal eine Haarspitze, die nicht verstanden worden wäre: Das wird von Erscheinungen freie Weisheit genannt. (Darum) sagte der Vorangegangene spirituelle Lehrer weiterhin:

„Der Beste der Zweifüßler ist von Erscheinungen frei.“

Und zudem heißt es (im Madyamakavatara):

„Das Aufhören des Geistes
ist durch den (Sambogha-)Kaya deutlich erkennbar.“

Deshalb lautet, was das betrifft, die Lehrmeinung der Kostbaren Linie30: Erscheinungen sind eigener Geist. „In dieser Weise ist es von euch zu verstehen. Ich bitte darum, integriert es in euer gesamtes Bewusstsein31!“, ersucht (Jigten Sumgön).

Aus Rundbrief 3/2009

—————————————————————-

1 Auszug aus der tibetischen Schrift „tshogs chos dbon shes rab ‚byung gnas kyis zin ’bris“, aus Band VII der Gesammelten Werke von Kyobpa Jigten Sumgön.
2  sems. Geist ist in diesem Kontext als konzeptioneller Geist zu verstehen. Wenn es später im Text heißt, Buddhas seien frei von Geist, wird verkürzt gesagt, sie sind frei von begrifflichem Denken. Sie haben selbstverständlich einen Geist, dessen Natur klar und erkennend ist.
3  bla ma rin po che. Beiname von Jigten Sumgön.
4  brgyud pa rin po che. Die „Kostbare Linie“ steht hier synonym für die Kagyü-Linie.
5  shing rta chen po’i srol. Die beiden Traditionen sind die „tiefgründige Sichtweise“ (tib. zab mo’i lta ba) nach Nagarjuna und die „weitläufige Verhaltensweise“ (tib. rgya chen spyod pa) nach Asanga.
6  snang ba rang sems. Man könnte es auch so formulieren: Alle Erscheinungen sind die Natur des eigenen Geistes (tib. snang ba thams cad sems kyi rang bzhin red). Jedoch vertritt die Kagyü-Tradition nicht, wie man schließen könnte, die Lehrmeinung der Nur-Geist-Schule (Chittamatrin, tib. sems tsam pa), sondern der Madhyamika Shentong (tib. dbu ma gzhan stong). Zum Unterschied dieser Lehrmeinungen vgl.: „Stufenweise Meditation über Leer-heit“ von Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche. Kagyü-Dharma-Verlag, Mechernich, 1994.
7  shes shing rtogs. „Verstehen“ basiert auf Studium und Kontemplation (tib. thos bsam). „Verwirklichung“ ist ein Ergebnis von anschließender Meditation (tib. sgom).
‘gro ba’i mgon po rin po che. „Kostbarer Schützer der Wesen“ ist im Allgemeinen ein Beiname für Phagmo Drupa, bezeichnet in diesem Kapitel jedoch Jigten Sumgön.
9  Vgl.: „dwags po chos bzhi’i ’grel ba khag gsum bzhugs so” von dwags po rin po che. KRPC, Kagyu Relief Protection Committee. CHITS, Sarnath, Varansi, first edition 2008, S. 49.
10  sems. „Geist“ und „Geisteshaltung“ sind hier verschiedene deutsche Übersetzungen für denselben tibetischen Begriff.
11  rje btsun rin po che. „Ehrwürdiger Kostbarer“ bezeichnet hier Phagmo Drupa.
12  lha rgan. Wörtlich bedeutet der Term „betagte Gottheit“ und ist eine Anrede für enge Freunde.
13  mi nyag sgom rin. „Minyag Gomrin“ war einer der vier Hauptschüler von Phagmo Drupa, somit wird hier auf den spirituellen Vater Phagmo Drupa angespielt.
14  g.yo ba med pa. D.h., Buddhas sind Geburt, Alter, Krankheit und Tod nicht unterworfen.
15  mi mjed pa’i ‘jig rten gyi khams. Das „Universum der Nachsicht“ ist das Universum dem Buddha Shakyamuni zugerechnet wird. Nachsicht ist hier als negative Eigenschaft zu verstehen, da wir geduldig mit den Kleshas umgehen, statt diese zu beseitigen.
16  stong gsum. Ein Weltensystem ist mit einer Sonne, einem Mond, einer Erde, einem Berg Meru und so fort ausgestattet.
17  ‘jig rten gyi khams pad mo can. Das Universum „Mit Lotusblumen ausgestattet“ wird dem Tathagata „Ausgezeichnete Lotusblume“ (tib. de bzhin gshegs pa pad mo dam pa) zugerech-net.
18  rje gong ma. „Vorangegangener Meister“ steht hier für Phagmo Drupa.
19  Vgl.: „Bodhicaryavatara. Anleitungen auf dem Weg zur Glückseligkeit“ von Shantideva. O.W. Barth, Frankfurt a. Main, 2. Auflage 2005, Kap. 7, Vers 7/8, S. 81.
20  thub pa. Beiname des historischen Buddha.
21  mo tshogs. Wörtlich wäre es eine „Ansammlung von Weiblichem“, der Term ist jedoch hier auch als „Feuermassen“ (tib. me tshogs) zu interpretieren. Nach Khenpo Nyima Gyaltsen sind beide Interpretationen möglich. In SHA 2005 wurde es als „Ansammlung von Menschen“ (tib. mi tshogs) aufgefasst.
22  bden pa bzhi. Die „Vier Wahrheiten“ sind: Wahrheit des Leidens, Wahrheit des Ursprungs, Wahrheit der Beendigung und Wahrheit des Pfades.
23  spangs zhing gnyen. Die ersten beiden Wahrheiten sind „Aufzugebendes“. Die letzten beiden Wahrheiten sind die „Gegenmittel“.
24  rten ‘brel bcu gnyis. Erklärungen zu den zwölf Gliedern des abhängigen Entstehens enthält: „Das Rad des Lebens“ von Geshe Thubten Ngawang. Dharma Edition, Hamburg, 1993.
25  bla ma gong ma. „Vorangegangener spiritueller Lehrer“ ist hier ein Synonym für Phagmo Drupa.
26  sa bcu pa’i mgon po. „Schützer auf der zehnten Ebene“ ist ein Synonym für Bodhisattvas.
27  Erscheinungen des Geistes sind Verschleierungen, der Geist selbst ist jedoch keine Verschleierung.
28  rkang gnyis gtso. „Zweifüßler“ ist eine andere Bezeichnung für Menschen, der Beste unter den Menschen ist Buddha.
29  phyi rol tu. Wörtlich: „außen“.
30  rgyud rin po che. Die Kagyü-Linie.
31  thugs kyi dkyil ‘khor zhig tu ‘jog pa.