Alle Geistesgifte, die zu den verschiedenen Arten von Leiden im Daseinskreislauf führen, sind aus der Unwissenheit entstanden. Diese Unwissenheit bedeutet, dass man an einer falschen Vorstellung eines „Selbst“ anhaftet. Infolge dessen entwickelt man Anhaftung an das, was angenehm erscheint und Abneigung gegenüber allem, was diesem Selbst schaden könnte. Daraus entstehen alle weiteren störenden Gefühle, die uns zu Handlungen veranlassen, die negative Eindrücke im Geist hinterlassen und Ursachen für die Erfahrung von Leiden sind.
Um diese Unwissenheit und das Greifen nach einem Selbst zu zerstören, wurde von Buddha Shakyamuni im zweiten Rad der Lehre in den Prajnaparamita-Schriften die „Leerheit“ erklärt. Als Gegenmittel gegen die Selbstsucht lehrte er Bodhicitta, den Erleuchtungsgeist, der aus der Entfaltung von Liebe und Mitgefühl für alle Wesen entwickelt wird. Leerheit und Bodhicitta sind die Hauptaspekte in der Praxis des Mahayana und Vajrayana. Ebenso sind sie die letztendliche Bedeutung der Praxis des Chöd.
Die Praxis des Chöd („Abschneiden“) ist eine tantrische Methode zur Ansammlung von Verdienst und Weisheit. Sie dient dem Abschneiden der Geistesgifte Begierde, Hass und Unwissenheit, die die Ursachen allen Leidens sind.
Nachdem man eine reine Motivation entwickelt hat, führt man entsprechend den Texten und Erklärungen zur Praxis verschiedene Opferungen aus, wobei man sich vorstellt, dass man seinen eigenen illusorischen Körper in der Form von Nektar den Objekten der Verehrung als Opferung und den anderen Wesen als Nahrung darbringt. Danach werden Verse über das abhängige Entstehen und die Leerheit als Darbringung von Dharma rezitiert. Der Schwerpunkt der Übung liegt darin, dass Anhaftung und Hass abgeschnitten und die Unwissenheit entwurzelt wird.
Diese häufig angewendete Methode wurde von der großen Erleuchteten, Matschig Labdrön, einer Emanation der Prajnaparamita, im 11. Jahrhundert entwickelt und wurde in Tibet sehr berühmt. Sie wird in vielen Linien des tibetischen Buddhismus praktiziert und ist bis zum heutigen Tage erhalten geblieben.
Dharma-Unterweisungen (Auszug aus dem Praxis-Text)
Alle Phänomene erscheinen bedingt durch Ursachen,
jene Ursachen wurden durch den Tathagata erklärt.
Weil er erklärte, wie die Ursachen ausgelöscht werden,
ist er der Mahashramana (der große Vollendete).
„Vermeide alle untugendhaften Taten
vollführe vollständig perfekte tugendhafte Handlungen,
zähme und transformiere deinen Geist“,
dieses ist die Lehre der Buddhas!
Durch die Kraft diesen großen Opfers,
möge ich die Buddhaschaft unter den fühlenden Wesen erlangen und
die Wesen, die nicht von früheren Buddhas befreit wurden,
durch Gro ßzügigkeit befreien.
Weitere Wunschgebete (ergänzende Gebete)
Das Unaussprechbare, jenseits der Vorstellungskraft, ist Prajnaparamita,
ungeboren und unaufhörlich wie die Essenz des Himmels,
die nur durch das Weisheitsbewusstsein wahrgenommen werden kann.
Möge die in den drei Zeiten siegreiche Mutter uns mit den glücksverheißenden Schauern der vollständigen Erfüllung segnen.
Der Dharmakaya ist wie der Raum, jenseits aller Unterscheidungen,
Sambhogakaya und Nirmanakaya manifestieren sich wie Regenbögen,
wie jemand, der die vollständige Meisterschaft über Methode und Weisheit besitzt.
Mögen die glorreichen fünf Tathagatas uns mit den glücksverheißenden Schauern der vollständigen Erfüllung segnen.
Die Praxis des Chöd ist eine sehr außergewöhnliche Meditation, deren Klang und Visualisierung körperliche Krankheiten und geistige Verblendungen heilen kann. Diese Wirkung entfaltet sich bereits beim bloßen Zuhören. Einige erinnern sich vielleicht an die tibetischen Mönche und Nonnen, die diese Praxis bei den Aufführungen buddhistischer Tänze und Gesänge vorgeführt haben. Genauso können auch wir lernen, die Rezitation in Verbindung mit dem Klang von Glocke und Trommel anzuwenden und mit der entsprechenden Visualisierung zu verbinden.
Die Praxis fördert unsere geistige Stabilität (Konzentration) und trägt zur Erkenntnis der Leerheit bei. Wenn man die nötigen vorbereitenden Übungen abgeschlossen hat, kann man sie für einige Zeit zu seiner Hauptpraxis machen. Im Alltag kann man sie zur Ansammlung von Verdienst und Weisheit zu bestimmten Zeiten durchführen, so dass sich nach und nach die Wirkung der Übung entfalten kann. Es ist sehr vorteilhaft, wenn man die Praxis von Zeit zu Zeit mit anderen Praktizierenden gemeinsam ausführen kann.
Kyobpa Jigten Sumgön sagte:
„Wer diese Chöd-Praxis vier Mal täglich praktiziert, wird von allen Hindernissen frei sein und vollständiges Verdienst ansammeln.
Indem man seinen Vajra-Körper als Opferung gegeben hat, hat man die zwei Arten von Verdienst vervollkommnet: Das Verdienst der Ansammlung und der Transformation des Bewusstseins und die Aufgabe der Anhaftung an den Körper, die Freiheit von besitzergreifendem Verlangen.
Weder menschliche noch nicht-menschliche Wesen können einem Schaden zufügen. Man wird nicht beeinflusst durch zerstörerische magische Mantras oder durch Einwirkung von Feuer, Wind oder anderen schädlichen Einflüssen.
Wenn man nicht vier Mal täglich praktizieren kann, dann sollte man versuchen, es jeweils zur Morgen- und Abenddämmerung zu tun, mindestens jedoch einmal am Tag. Indem man die Anweisungen behält, sollte man regelmäßig praktizieren.“
(Auszug aus den Anmerkungen zum Praxis-Text: Kusali Tsog Sog (Chöd)
„Die Methode für arme Praktizierende, Verdienst anzusammeln“
aus den tiefgründigen Dharmas von Kyobpa Jigten Sumgön)
Es gibt viele Wege, das Chöd zu praktizieren, die dem Entwicklungsstand des Einzelnen entsprechen. Die Methode des Chöd ist eine fortgeschrittene Praxis und für Anfänger, die noch keine Erfahrung in Rezitationen und Visualisierungen haben, nicht geeignet. Diejenigen, die Interesse haben, diese Übung zu erlernen, sollen sich vorher einige Zeit mit allgemeinen Studien und Meditationsübungen befasst haben, um die notwendigen Voraussetzungen für die Einweihung und Unterweisungen zu besitzen und die Methode korrekt anwenden zu k önnen.
Zusammenstellung aus Belehrungen und dem Praxistext zum Chöd:
Tändsin Tschödrön Karuna (Elke Tobias), Herbst 2005
Aus Rundbrief 1/2006