Tonglen – Sich das Leiden der anderen zu Herzen nehmen

Alle Traditionen des tibetischen Buddhismus überliefern seit etwa 1.000 Jahren innerhalb des Geistestrainings (tib. Lojong) eine Meditationspraxis zur Vertiefung von Mitgefühl und Empathie, die sich ‚Tonglen‘ nennt, übersetzt als ‚Geben und Nehmen‘ oder ‚Aussenden und Annehmen‘. Dabei geht es um das Geben von Glück und das Nehmen von Leiden. Beide Bewegungen des Geistes werden mit der Atmung verbunden.

Bevor man mit der Übung beginnt, sollte man sich klarmachen, dass es um die Entwicklung von Herzenswärme und Mitgefühl geht und nicht darum, das Leiden noch zu verstärken. Die Meditation des Tonglen dient dazu, schon vorhandenes Leiden in die spirituelle Praxis zu integrieren und zum Katalysator für heilsame Geisteszustände zu machen.

Tibetische Lamas beschreiben immer wieder, welchen enormen Nutzen Tonglen entfaltet: Die Meditation des Tonglen öffnet das Herz, stärkt das Einfühlungsvermögen und verringert das egoistische Festklammern. Gemäß den Schriften des Mahayana-Buddhismus entsteht durch die Veränderung der Motivation in Richtung Mitgefühl und erleuchtendem Mut (skr. Bodhicitta) die stärkste Kraft, die ein menschliches Gemüt entfalten kann.

Eine solche altruistische Haltung wird sich ausdrücken und Veränderung bewirken: für denjenigen, der sie kultiviert, und für andere, die davon berührt werden. Das Bewusstsein, das Tonglen übt, wird nach Mitteln und Wegen suchen, heilsame Impulse in die Tat umzusetzen. Das Besondere an der Tonglen-Praxis ist, dass man sich das Schwierige, das Unangenehme näherbringt. Man übt das Annehmen, Wahrnehmen, das Sich-berühren-lassen. Das Herz wird dadurch offener und wärmer, die Sorge um andere wächst auf ganz natürliche Weise, während die starke Fixierung auf sich selbst, auf das eigene Wohl verringert wird.

Tonglen ist keine energetische Praxis wie Qigong oder Reiki, in denen man sich positive Energien zunutze macht, sondern der Kern ist die Umwandlung des Geistes. Bei der Meditation geht es nicht darum, die Krankheiten, Schmerzen und ‚Energien‘ anderer einzuatmen und sich konkret damit zu belasten, sondern sich beim Einatmen in der Vorstellung auf negative Gewohnheiten zu richten, zum Beispiel Selbstbezogenheit.

Tonglen knüpft an traditionelle buddhistische Meditationen an, etwa die Metta-Meditation (liebende Güte), in der man mit Wunschgedanken oder Visualisierungen liebende Güte für andere entfaltet. Im tibetischen Buddhismus kennen wir darüber hinaus Herzensmeditationen mit Mantras wie dem Mantra von Avalokiteshvara (tib. Chenresig). Während der Rezitation übt man sich im Geben, in der Kraft guter Wünsche und der Vorstellung, dass sich heilsame Geisteskräfte vom Herzen ausbreiten und zu den Lebewesen strahlen.

Die Tonglen-Methode erweitert die Praxis von Liebe und Mitgefühl um den Aspekt des Nehmens, also des sich bewussten Verbindens mit dem Leiden anderer. Die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes ist das spirituelle Ziel von Tonglen und wir üben mit einem weiten und offenen Geist, idealerweise verbunden mit einem Verständnis der Leerheit aller Erscheinungen. Wenn dem Meditierenden dieser Zusammenhang bewusst ist und er wirklich Mitgefühl üben möchte, werden Ängste vor negativen Effekten in den Hintergrund treten.

Wir dürfen uns nicht überfordern. Vielleicht üben wir Tonglen, weil wir merken, dass wir zu wenig Mitgefühl besitzen und unsere Herzen wie verschlossen sind. Allein die Vorstellung, dass wir uns das Leiden anderer zu Herzen nehmen, kann schon sehr viel bewirken. Im Buddhismus geht es um eine schrittweise und stetige Schulung, die langfristig zu einer echten inneren Entwicklung und Reife führt.

Die Tonglen-Praxis kann auch beim Lesen, Hören oder Sehen von Nachrichten über politische Ereignisse, Naturkatastrophen, Kriege und Umweltzerstörung geübt werden. Wir stellen uns die Leiden konkret vor. Wir atmen das Leiden ein, zum Beispiel das Leiden, das durch die Abholzung eines Waldes für die darin lebenden Wesen entsteht, und stellen uns mit dem Ausatmen vor, wie diese Wesen Glück und gute Umstände finden. So können wir eine innere Verbindung zur Welt herstellen und die tägliche Informationsflut sinnvoll verarbeiten. Wir werden dann die Kraft haben, die Welt heilsamer, gerechter und gesünder zu gestalten und uns mit Betroffenheit und Entschlusskraft der Genesung unserer Zivilisation und unseres Ökosystems widmen.

Auszüge aus einem Artikel von Yesche U. Regel

Weitere Beschreibungen auf den folgenden Internetseiten:

  • Tonglen – ein Auszug aus dem Buch ‚Das Sieben-Punkte Mahayana-Geistestraining (tib. Lojong)‘
  • Tonglen – Die Übung des Gebens und Nehmens
  • Tonglen – Sich das Leiden der anderen zu Herzen nehmen (vollständiger Artikel aus ‚ Tibet und Buddhismus‘)
  • Lojong –  Das Sieben Punkte Geistestraining
  • Weitere Erklärungen befinden sich auf den Seiten von Yesche U. Regel