Lojong-Buch

Tonglen

Die Übung des Gebens und Nehmens

Der nachfolgende Auszug stammt aus dem Buch „Das Sieben-Punkte Mahayana-Geistestraining“ (tib. Lojong) von Khenpo Sherab Öser. Dieses ist als Dana-Buch im Mandala Dharma-Shop erhältlich.

Übe dich abwechselnd in beiden – Geben und Nehmen.

Nun geht es um die Übung von ‚Geben und Nehmen’. Was ist es, das wir geben und was ist es, das wir nehmen müssen?

Es gibt drei Dinge, die wir geben – unseren Körper, unseren Besitz und die Wurzel von allem Heilsamen. Diese drei werden als die Basis für das Greifen nach einem Selbst bezeichnet. Zunächst identifizieren wir uns mit unserem Körper als ‚Ich’ und dann nehmen wir für das Wohl dieses Körpers alle möglichen Schwierigkeiten auf uns und unternehmen viele Anstrengungen für diesen Körper.

Die zweite Basis für das Greifen nach einem Selbst ist unser Besitz. Nachdem wir uns mit diesem Körper als ‚Ich’ identifiziert haben, folgt, dass wir alles, was zu diesem ‚Ich’ gehört, als ‚mein’ bezeichnen. Mein Essen und Trinken, meine Kleidung, mein Haus, mein Schmuck usw. – dies alles betrachten wir als unseren Besitz. Unser Körper und alle Besitztümer sind mit diesem Leben verbunden.

Der dritte Aspekt, die Wurzel des Heilsamen, ist das, was auch in zukünftigen Leben Glück bewirkt. Wir unternehmen vielfältige Anstrengungen, um ein möglichst großes heilsames Potential oder Verdienst anzusammeln und so wird auch dieses Heilsame zu einer Basis für das Greifen nach einem Selbst.

Diese drei – unser Körper, Besitz und die Wurzel des Heilsamen – sind für uns sehr wichtig und kostbar. Von den ersten beiden erwarten wir einen Nutzen in diesem Leben und von unserem angesammelten heilsamen Potential erwarten wir Glück in zukünftigen Leben.

Es sind diese drei Aspekte des Greifens nach einem Selbst, die wir in der Übung von ‚Geben und Nehmen’ geben müssen.

Nun zu dem, was wir nehmen. Wir können diese Übung von ‚Geben und Nehmen’ wie eine Geschäftshandlung betrachten. Wir bezahlen mit unserem Körper, Besitz und unserem Verdienst und bekommen dafür etwas zurück. Was wir in der Praxis von ‚Geben und Nehmen’ erhalten, ist das Leid aller fühlenden Wesen, die unsere Eltern gewesen sind. Wir nehmen das Resultat, alles Leid der Wesen und ebenso die Ursache dieser Leiden, die störenden Emotionen – Anhaftung und Begierde, Ärger und Hass, Eifersucht, Stolz, Unwissenheit usw. – sowie alle Krankheit und alle Schmerzen. Wir nehmen alle negativen Ursachen und Wirkungen der fühlenden Wesen in den drei Bereichen auf uns. Außerdem nehmen wir alles negative Karma, das die Wesen durch die zehn unheilsamen Handlungen, die fünf schwerwiegenden Handlungen mit unmittelbarer Vergeltung usw. angesammelt haben. In der gleichen Weise nehmen wir alle gebrochenen oder beschädigten Gelübde und tantrischen Verpflichtungen (Skrt. Samaya), alles Karma, das zu Leiden führt, auf uns.

In dieser Weise praktizieren wir ‚Geben und Nehmen’.

Nachdem wir wissen, was wir ‚geben und nehmen’, geht es nun um die Frage, wie wir dieses üben. Hierzu heißt es:

Verbinde beide mit dem Atem.

In Bezug auf das Geben bedeutet dies die Vorstellung, dass wir unseren Körper, all unseren Besitz und unseren Verdienst mit dem Ausatmen in der Form von weißem Licht, wie die Strahlen der Sonne oder des Mondes, aussenden. Wir visualisieren, dass wir unseren Körper, Besitztümer und alles heilsame Potential als weißes Licht gemeinsam mit dem Atem zu allen Wesen in den drei Bereichen senden. Wenn diese Lichtstrahlen die Wesen berühren, denken wir: „Mögen alle fühlenden Wesen Glück erfahren und frei sein von Leid.” So zerstören wir das Leid aller Wesen und führen sie zur vollkommenen Buddhaschaft. Wir sollten uns dann daran erfreuen, dass wir dazu fähig waren.

Wenn wir dann erneut einatmen, verbinden wir alles Leiden, alle störenden Emotionen, alle Krankheit, alle widrigen Umstände und Hindernisse aller Wesen mit dem Atem und atmen all dies in der Form von schwarzem Rauch ein. Wir können uns das Leidvolle, Negative auch in der Form eines Skorpions oder in einer anderen grauenhaften Erscheinung vorstellen. Wir nehmen dieses mit dem Atem durch unsere Nase auf, es steigt in uns nach unten und berührt unser Herz. Wenn wir so meditieren, entsteht in uns eine unerträgliche Empfindung. Dies ist der Moment, in dem diese Praxis tatsächlich zu einem Gegenmittel gegen das Greifen nach einem Selbst wird.

Hier kommen wir zu einer Kernanweisung für die Praxis von ‚Geben und Nehmen’, das Austauschen von Selbst und anderen. Diese bezieht sich auf die Frage, ob wir bei der Übung von ‚Geben und Nehmen’ von der Existenz eines Selbst ausgehen oder davon, dass dieses Selbst nicht existiert. Hierzu heißt es, dass es besser ist, davon auszugehen, dass ein Selbst existiert, wenn wir ‚Geben und Nehmen’ praktizieren. Der Meister Atisha verdeutlichte dies an dem Beispiel einer Pflanze. Wenn wir den Samen in völlig sterilen, sauberen Boden legen, wird die Pflanze nur schwerlich gedeihen. Wenn man jedoch Dünger hinzufügt, fördert dies ein gutes Wachstum. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass es besser ist, die Praxis von ‚Geben und Nehmen’ mit der Vorstellung eines existierenden Selbst zu üben. Wenn wir ohne die Annahme eines Selbst praktizieren, wird dies sehr viel schwieriger sein.

Wie führen wir die Praxis, verbunden mit der Annahme, dass ein Selbst existiert, aus? Wir stellen uns vor, dass sich dieses ‚Ich’ in der Form einer soliden Masse in unserem Herzzentrum befindet. Dieses ‚Ich’ oder ‚Selbst’ ist real, materiell wie ein solider Ball oder ein Stein in unserem Herzen. Wenn wir dann alles Leiden, alle Hindernisse usw., verbunden mit dem Einatmen, in uns aufnehmen, gehen diese direkt in unser Herzzentrum zu diesem Ball oder Stein, der die Basis für unser Greifen nach einem Selbst darstellt. All dieses schreckliche Leiden attackiert den Ball in unserem Herzen, so dass dieser immer kleiner und kleiner wird.

Was hier also geschieht, ist, dass unser Greifen und Festhalten an einem Selbst immer weiter schrumpft. Manchmal sorgen wir uns vielleicht darüber, was geschieht, wenn alles Leiden aller fühlenden Wesen der sechs Bereiche zu uns kommt. Wir fragen uns, ob wir diese Aufgabe tatsächlich bewältigen können. Was tatsächlich geschieht, wenn wir alles Leiden annehmen, ist, dass dies unser Festhalten an einem ‚Ich’ zerstört. Dieses ‚Ich’ wird kleiner und kleiner, so dass sich schließlich die Frage stellt, wer Leid erfährt, wenn es kein ‚Ich’ mehr gibt. Daher werden wir durch diese Übung kein zusätzliches Leid erfahren, denn unser ‚Ich’ oder Selbst wird dadurch zerstört. Wenn es das ‚Ich’, an dem wir festhalten könnten, nicht mehr gibt, ist da auch Niemand mehr, der leidet. Wenn also alles Leid der Wesen unser Herz berührt, müssen wir uns nicht sorgen, dass wir dadurch mehr Leiden erfahren.

In der Anweisung zur Praxis heißt es, dass beide – Geben und Nehmen – mit dem Atem verbunden werden. Ausatmend geben wir unseren Körper, Besitz und alle Tugenden und senden diese zu allen fühlenden Wesen in den sechs Bereichen, befreien sie so von allen Leiden, so dass sie die vollkommene Buddhaschaft erlangen und erfreuen uns schließlich daran. Diese Visualisierung benötigt eine gewisse Zeit, wofür wir normalerweise mehrere Atemzüge benötigen.

Wenn wir über diesen Teil der Übung in allen Details meditiert haben, ändern wir mit dem nächsten Einatmen die Visualisierung und nehmen nun alles Leiden, Krankheit, Hindernisse, Karma usw. an. Auch dieser Teil benötigt meist einige Atemzüge. Die Betonung liegt hier also auf der Visualisierung und nicht auf dem Atem. Wir beginnen mit dem Ausatmen und den damit verbundenen Vorstellungen und nehmen uns soviel Zeit, wie wir benötigen. Dann ändern wir mit dem nächsten Einatmen die Visualisierung und nehmen uns auch hier wieder die Zeit, die wir benötigen, während wir normal weiter atmen. Wenn die Vorstellung des Nehmens vollständig ist, wechseln wir erneut mit dem nächsten Ausatmen zur Übung des Gebens usw.

Übersetzung aus dem Englischen
von Könchog Tsechö (Sabine Tsering)