songtsen_statue

Drikung Projekte Songtsen Library

Liebe, liebe Freunde,

alles ist neu für mich in diesem Teil des Abenteuers. Nun lebe ich in einem Hotel und arbeite jeden Tag in einer Fabrik, die Skulpturen herstellt. Ein Team von ungefähr sieben Leuten arbeitet an der Skulptur. Die Fabrik liegt im alten Teil von Benares, wie im Film mit kleinen Straßen, vielfarbigen Gebäuden aus alter Vergangenheit. Es herrscht noch Monsun, daher sind die Straßen ungefähr bis Wadenhöhe überflutet. Die indische Familie ist seit vier Generationen im Skulpturengeschäft und hat etwa 200 Leute beschäftigt. Es ist schön, sich nur auf die Skulptur konzentrieren zu müssen und tatsächlich erholsam, weil meine Beaufsichtigungsaufgaben manchmal den ganzen Tag in Anspruch nahmen. Ich bekomme mein Mittagessen in einem Empfangsraum, und die Familie kocht das leckerste Essen, das von der jungen Frau oder der Tochter serviert wird, deren Hände mit den traditionellen Hennamustern bemalt sind. Als ich ankam, sah die Statue ziemlich übel aus, aber ich habe sechs Wochen Zeit, um sie in Form zu bringen und um den Zeitplan bis zur Ankunft des Dalai Lama einzuhalten. Außerdem spreche ich nur zwei Sprachen. Eines Abends beim Abendessen wollte die chinesische Frau mit mir sprechen, also sprach sie auf Chinesisch mit Rinzin, der es Pasang gegenüber in seinem Kham-Dialekt wiederholte, der wiederum Chowang alles in Tibetisch erzählte, der es schließlich mir ins Englische übersetzte. Genau auf diese Weise musste ich oft Arbeitsanweisungen geben.

Seine Heiligkeit Chetsang Rinpoche hielt eine inspirierende Rede über seine Vision anlässlich seiner Rückkehr zur Songtsen Library nach seiner Weltreise. Ich hoffe, dass ich einen Eindruck dessen vermitteln kann, was netterweise von unserer Direktorin, Mrs. Taklha, übersetzt wurde. Um die Drikung Kagyü Linie des tibetischen Buddhismus in dieser Zeit zu bewahren und weiterzubringen, hat Seine Heiligkeit drei Entwicklungsgebiete festgelegt. Diese sind: Philosophische Studien, die vom Jangchubling-Kloster und von der Shedra, die sich jetzt im Bau befindet, repräsentiert werden; Drei-Jahres-Retreats in Almora und in Ani Gompa und Langzeitretreats in Lachi, einem der heiligen Orte von Chakrasamvara und schließlich die tibetische Kultur, welche von der Songtsen Library repräsentiert wird.

Er wählte den Namen Songtsen als Erinnerung an den großen frühen tibetischen König Songtsen Gampo (650 n. Chr.), der nicht nur den Buddhismus nach Tibet brachte, sondern auch das erste geschriebene Alphabet etablierte, einen Moralkodex verbreitete, die tibetische Medizin weiterentwickelte und das Land vereinte. Durch den Bau der Songtsen-Bibliothek errichtet Seine Heiligkeit ein internationales Lernzentrum, einen Ort der Unterstützung und Verbindung für Gelehrte, Schüler und für die Öffentlichkeit. Die Bibliothek wird eine größere Sammlung von Arbeiten aus der Dunhuang-Region umfassen und Bücher, die sich auf die Himalaya-Regionen beziehen. Diese enthalten einige der ersten Aufzeichnungen über das tibetische Leben und die Kultur, welche sich bisher hauptsächlich in Sammlungen in Großbritannien, Frankreich und Russland befanden. Zusätzlich stellt Seine Heiligkeit eine Kompilation buddhistischen Wissens zusammen, die die Kanjur/Tanjur-Texte und Kopien des Tripitaka in jeder buddhistischen Sprache und aus jeder buddhistischen Kultur enthält (die gesammelten Lehren des Buddha und die Kommentare der Meister aus Japan, China, Thailand, Vietnam und Sri Lanka). Inspiriert durch die New York Public Library baut er zugleich ein digitales Lernzentrum auf, in welchem die Grundlagen internationalen Wissens der hiesigen Öffentlichkeit online zugänglich gemacht werden.

Seine Heiligkeit Chetsang Rinpoche betonte, dass sich zur Zeit alle Kulturen weiterentwickeln und dass die tibetische Kultur dies auch tun müsse. Die Arbeit von Gelehrten/Schülern und Übersetzern ist kostbar, und es ist entscheidend, dass sie nicht durch doppelten Kraftaufwand vergeudet wird. Deshalb wird die Bibliothek jährliche internationale Konferenzen veranstalten, in denen Lehrer der Tibetologie zusammengebracht werden und öffentliche Veranstaltungen stattfinden werden. Zunächst wird es eine Konferenz über die tibetische Sprache geben. Diese ist gefährdet, weil die älteren Benutzer Vokabeln vergessen und der moderne Sprachgebrauch neue Begriffe verlangt. Ausdrucksvoll verglich S. H. das Aussterben der Sprache mit Tinte, die von einem Löschpapier aufgesogen wird und nannte das Beispiel der unzähligen Tiernamen, die die Menschen nicht länger kennen. So hat zum Beispiel der schwarze Yak einen besonderen Namen, wie auch jede Farbe jedes Tieres. Mit Internet-Verbindungen können Diskussionen über die Entwicklung neuer Worte trotz räumlicher Distanz geführt werden.

Die zweite Konferenz wird sich mit den Künsten befassen, indem die Meister der Bildenden Kunst und des Tanzes aus allen Kulturen des Himalaya ihre Fähigkeiten demonstrieren. Zusätzlich werden moderne Künstler, welche buddhistische Lehren mit modernen Formen verbinden, deren Arbeit teilen. Außerdem wird eine Konferenz über tibetische Medizin stattfinden. Zusätzlich dazu, dass die besten Ärzte des Himalaya zusammengebracht werden, strebt Seine Heiligkeit Diskussionen über den erstaunlichen Fortschritt der heutigen Medizin und über die Erhaltung der medizinischen Pflanzen an. Er wies darauf hin, dass die tibetische Medizin ein Heilmittel gegen Diabetes entwickelt und sich außerdem damit beschäftige, Gifte aus Pflanzen zu extrahieren, so dass die Medizin sicherer würde. Einige Schwierigkeiten, mit denen tibetische Ärzte konfrontiert sind, bestehen darin, dass die Pflanzen in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Namen bezeichnet werden. Dies kann Verwirrung auslösen, und die Möglichkeit unkorrekter Medizin ist vorgegeben. S. H. will darum bitten, dass Exemplare der Pflanzen zu den Konferenzen mitgebracht werden, so dass das Wissen exakt weitergegeben und geteilt werden kann. Er geht davon aus, dass einige Pflanzen, die nicht länger aus Tibet bezogen werden können, erfolgreich in Ladakh angebaut werden können. Viele Menschen aus der ganzen Welt können von der tibetischen Medizin profitieren, wenn diese Arbeit getan ist.

Rinpoche betrachtet diese Vision als einen kleinen Anfang und ging davon aus, dass die Bibliothek in den kommenden Jahren unsagbare Vorteile für zahllose Menschen bringen werde.

Alles Liebe, Nyima Drolma

Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Angela Kochs

Aus Rundbrief 1/2003