Vorwort des Autors Khenpo Könchog Gyaltsen Rinpoche zur deutschen Ausgabe von
„Auf der Suche nach dem Reinen Nektar des Langen Lebens„
In den vergangenen Jahrzehnten entwickelte sich bei vielen Menschen im Westen ein Interesse am Buddhismus und insbesondere am tibetischen Buddhismus. Das vorliegende kleine Buch allgemeiner buddhistischer Lehren, mit einer Auswahl grundlegender Meditationsübungen des Vajrayana, ist konzipiert worden, um neue Interessenten, aber auch fortgeschrittene Praktizierende in ihrem Verständnis und der Praxis des Buddhismus zu unterstützen.
Es entspricht der Natur aller fühlenden Wesen, nach Glück zu streben und Leid zu vermeiden. Diese Ziele können aber nicht durch bloßes Wünschen und Sehnen erreicht werden. Es müssen auch wirkungsvolle Methoden angewendet werden.
Alle Phänomene entstehen in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen, und nichts ereignet sich ohne Ursache oder wenn unvollständige oder nicht verwandte Ursachen vorhanden sind. Die buddhistische Philosophie erklärt deutlich den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Während unheilsame Gedanken und Handlungen Leiden erzeugen, verursachen heilsame Gedanken und Handlungen Glück. Dies ist das unausweichliche Gesetz des Karma.
Frieden und Glück im Samsara sind vorübergehend und vergänglich. Dies ist das Leiden der Veränderung. Selbst wenn wir das Glück der höheren Bereiche erlangen, gibt es keinen Grund, daran anzuhaften, denn auch dieses Glück wird vergehen. Vollkommenes Glück kann nur durch die Befreiung aus der bedingten Existenz erlangt werden. Darum müssen wir eine Anstrengung unternehmen, um die absolute Freiheit von den Leiden im Samsara zu erreichen.
Ganz gleich, ob wir die vollkommene Erleuchtung anstreben, die individuelle Befreiung aus Samsara oder zeitweiliges Glück – grundlegend sind immer das Ausüben der zehn heilsamen Handlungen und das Aufgeben der zehn unheilsamen Handlungen. Wenn wir die zehn heilsamen Handlungen ausüben, ohne die Entsagung vom Samsara zu entwickeln, wird dies zwar eine Wiedergeburt in den höheren Bereichen der Menschen oder Götter bewirken, aber wir werden weiterhin nicht aus dem Kreislauf der Leiden befreit sein. Führen wir die gleichen Handlungen auf der Basis der Entsagung von den persönlichen Leiden aus, werden wir die individuelle Befreiung erreichen. Entwickeln wir darüber hinaus Bodhicitta, werden wir die Buddhaschaft erlangen.
Die Vier Dharmas von Gampopa sind einfach und umfassen trotzdem die vollständigen Lehren des Sutrayana und des Vajrayana:
Die Vier Dharmas von Gampopa sind:
Der Geist wendet sich dem Dharma zu bedeutet in erster Linie, daß wir unsere kostbare menschliche Existenz mit ihren achtzehn Qualitäten der Freiheiten und Ausstattungen schätzen lernen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt eröffnet sich uns die Möglichkeit der vollständigen Befreiung aus Samsara und der Erlangung der vollkommenen Erleuchtung.
Die fühlenden Wesen und alle Phänomene sind vergänglich und flüchtig. Die Menschen müssen Geburt, Alter, Krankheit und Tod erleben. Ganz gleich, wieviel Energie wir in die Verbesserung unserer Lebensumstände investieren, alles wird wie ein Traum vergehen. Selbst für kleine Vergnügungen sind wir gezwungen, Mühen und Opfer auf uns zu nehmen, und wenn der Tod naht, bleibt davon nichts weiter als eine verblassende Erinnerung. Was beim Sterben letztlich nur zählt, sind die Verwirklichungen, die wir durch unsere Dharma-Praxis erlangt haben. Auch unser Körper, den wir gehegt und gepflegt haben, wird uns keine Hilfe mehr sein, sondern im Gegenteil zur Quelle des Elends. Alle zusammengesetzten Phänomene sind der Vergänglichkeit unterworfen. Unabhängig davon, wie sehr wir auch danach streben – im Samsara gibt es kein vollkommenes Glück.
Leiden aufgrund abhängiger Existenz beinhaltet sowohl körperliches als auch geistiges Leiden. Die verunreinigten Skandhas oder Aggregate sind untrennbar mit den Leiden des Schmerzes, den Leiden der Veränderung sowie den allesdurchdringenden Leiden verbunden. Die fühlenden Wesen leiden überdies daran, nicht das zu bekommen, wonach sie sich sehnen; von dem getrennt zu sein, was sie besitzen möchten; mit Feinden zusammenzutreffen; Freunde und geliebte Menschen zu verlieren und unzufrieden zu sein, selbst wenn sie bekommen, was sie sich wünschen. Ganz gleich, wieviel Vergnügen wir auch erleben, wir werden niemals vollkommen zufrieden sein. Wir suchen immer weiter nach Glück. Das ist die Realität des Samsara.
Haben wir dies zweifelsfrei erkannt, werden wir ganz natürlich nach Wegen aus diesen Umständen suchen. Wenn wir verstanden haben, wie durch den Dharma die Verunreinigungen beseitigt werden können und wie er uns zur Erleuchtung führen kann, wird sich unser Geist dem Dharma zuwenden. Die Kontemplation über die Vier Gedanken (Kostbarer Menschenkörper, Vergänglichkeit, Karma und Samsara) ist daher das geeignete Mittel, durch das sich der Geist dem Dharma zuwendet.
Der Dharma wird zum Erleuchtungspfad bedeutet, daß wir den Dharma nutzen, um die Buddhaschaft zu erlangen. Auf der Grundlage der Vier Gedanken entwickelt man aufrichtig grenzenlose Liebe, Mitgefühl und Bodhicitta. Dies ist eine besondere Methode, seinen Geist zu entwickeln, um Freude für sich und andere zu schaffen. Alle Buddhas und Bodhisattvas der Vergangenheit erlangten ihre Verwirklichung durch die Entwicklung von Bodhicitta, und die Buddhas und Bodhisattvas der Zukunft werden es in der gleichen Weise tun. Es gibt niemanden, der ohne diese Geisteshaltung Verwirklichungen erlangt hat.
Der Pfad beseitigt die Verwirrung bedeutet die Beseitigung der drei Geistesgifte Unwissenheit, Begierde und Haß. Ob wir nun nach den Sutrayana- oder Vajrayana-Lehren praktizieren, unser Hauptaugenmerk sollten wir immer auf die Beseitigung dieser drei Geistesgifte legen. Wenn wir den Dharma dazu benutzen, Begierde und andere Leidenschaften anwachsen zu lassen, anstatt den Dharma wirklich zu praktizieren, werden wir uns nur noch tiefer in Samsara verstricken. Wenn wir den Dharma studieren oder praktizieren, müssen wir unseren eigenen Geist beobachten. Wird der Geist klarer, offener, ruhiger, geduldiger, aufmerksamer und verständiger, ist dies ein Zeichen für die Beseitigung der Verwirrung auf dem Pfad. Wenn wir dagegen so fortgeschrittene Dharma-Lehren wie die Methoden des Vajrayana praktizieren und trotzdem überheblicher, undisziplinierter, zerstreuter und stolzer werden, wenn wir nur noch die negativen Seiten der anderen sehen, wurde die Verwirrung auf dem Pfad nicht beseitigt.
Um erfolgreich zu praktizieren, sollten wir uns daher immer wieder die Vier Gedanken, Liebe, Mitgefühl, Bodhicitta und das abhängige Entstehen in Erinnerung zu rufen. Außerdem sollten wir immer die Achtsamkeit aufrechterhalten, daß alle Phänomene so unwirklich wie Träume sind. Kyobpa Jigten Sumgön sagte, daß die Vorbereitenden Übungen (Ngöndro) viel tiefgründiger und wichtiger als die fortgeschrittenen Praktiken sind. Ohne eine solide Grundlage wie die der Vorbereitenden Übungen werden fortgeschrittene Praktiken, wie z.B. Tantra und Mahamudra erfolglos sein.
Die Verwirrung wird in Weisheit umgewandelt ist der vierte Dharma des Gampopa. Da die Buddha-Natur alle fühlenden Wesen vollständig durchdringt, gibt es nichts zu erreichen, was wir nicht schon haben. Das Studium und die Praxis des Dharma hat vielmehr den Zweck, die Realität des ursprünglichen Zustandes, die absolute Seinsweise der Wirklichkeit zu erkennen. Um dies zu erreichen ist es notwendig, die störenden Gefühle zu reinigen, denn nur so ist es möglich, diese bisher nicht erkannte grundlegende Seinsweise der Wirklichkeit zu erkennen. Wenn wir statt dessen immer mehr Unwissenheit, Begierde und Haß anhäufen, kann eine Umwandlung der Verwirrung in Weisheit nicht stattfinden. Wir können die Buddhaschaft nicht erlangen, indem wir unsere Leidenschaften vermehren, sondern ausschließlich durch die Beseitigung der Verunreinigungen. Diese Erkenntnis ist von allen großen Meistern der Vergangenheit nachdrücklich betont worden. Ich wiederhole dies hier nur noch einmal.
Für diejenigen von uns, die dem Pfad des Dharma folgen wollen, ist es notwendig, aufrichtig und achtsam zu praktizieren. Es ist nicht so schwierig, den Dharma zu verstehen, aber es ist schwierig, ihn zu praktizieren. Ohne die Anwendung angemessener Methoden in der Praxis werden sich kaum Fortschritte zeigen. Die Trägheit ist tief in uns verwurzelt, und sie veranlaßt uns immer wieder, die Praxis zu verschieben. Der Strom schlechter Gewohnheiten ist außerordentlich stark, und wir werden von ihm hilflos mitgerissen. Wenn wir uns zu Sklaven unserer herzlosen negativen Gedanken machen, leiden wir unnötigerweise. Der Dharma ist das einzige Mittel, um uns zu befreien, aber er sollte achtsam und aufrichtig praktiziert werden. Geben wir den Dharma nicht auf, so wird der Dharma auch uns niemals aufgeben. Der Dharma ist die wirkliche Zuflucht, die uns zur Buddhaschaft führen kann.
Die Übersetzer dieses Buches haben einen großen Dienst geleistet, und es wird sicher von denen hochgeschätzt werden, die den Wunsch haben, den Dharma zu praktizieren. Ich hoffe, daß es zum Nutzen vieler Menschen sein wird.