1. Allgemeine Erklärungen und die vorbereitenden Übungen
Buddha Shakyamuni und die Überlieferung der Lehren
Buddha Shakyamuni hat aus Mitgefühl und Weisheit zahllose Dharma-Lehren gegeben. Diese sind Heilmittel gegen alle Arten von Geistesgiften und störenden Gefühlen. Sie helfen allen Wesen, die von ihren Geistesgiften beherrscht werden, sich aus diesem leidvollen Zustand zu befreien und die Erleuchtung zu erlangen. Zunächst sollten wir nach den Sutra-Lehren praktizieren und dann stufenweise zu den Tantra-Lehren fortschreiten.
Gampopa fasste die Lehren aus den Sutras und Tantras in den Lehren des Vajrayana zusammen. Die Essenz dieser Lehren ist im tiefgründigen fünfteiligen Mahamudra-Pfad (tib. Chagya Chenpo Ngaden, kurz: Ngaden) enthalten. Diese Übungen umfassen einen stufenweisen Pfad von den Vorbereitenden Übungen über die Verwirklichung von Mahamudra bis zur vollkommenen Erleuchtung.
Der tiefgründige, fünfteilige Pfad der Mahamudra besteht aus:
- den vorbereitenden Übungen und der Entwicklung von Bodhicitta,
- der Praxis des Deva (skr., tib. Yidam),
- dem Guru-Yoga der vier Kayas,
- Mahamudra, dem großen Siegel,
- der Widmung des Verdienstes.
Der tiefgründige, fünfteilige Pfad der Mahamudra und die Sechs Yogas von Naropa sind die Essenz der Lehren des Buddha, womit es möglich ist, in einem einzigen Leben Erleuchtung zu erreichen.
Die vorbereitenden Übungen (tib. Ngöndro)
Um den Pfad zur Verwirklichung der Mahamudra und die Sechs Yogas von Naropa praktizieren zu können, führt man zuerst die vorbereitenden Übungen aus. Es gibt drei Gruppen von vorbereitenden Übungen:
- die allgemeinen vorbereitenden Übungen (äußeres Ngöndro),
- die besonderen vorbereitenden Übungen (inneres Ngöndro),
- die außergewöhnlichen vorbereitenden Übungen (spezielles Ngöndro).
Die Meditationen über die vier allgemeinen Vorbereitungen werden auch als „die vier Wege, die den Geist verändern“ bezeichnet und entsprechen dem Pfad des Sutrayana. Dadurch können wir unseren Geist vom Daseinskreislauf (skr. Samsara) abwenden und dem Dharma zuzuwenden. Anschließend praktiziert man die vier besonderen Vorbereitungen des Mahayana, um sich von negativem Karma, den Hindernissen von Körper, Rede und Geist zu reinigen und um die zwei Arten von Verdienst anzusammeln. Dann entwickelt man Bodhicitta, den Erleuchtungsgeist.
Die allgemeinen vorbereitenden Übungen (äußeres Ngöndro)
- Um dieses Leben mit Bedeutung zu erfüllen, führen wir die Kontemplation über den kostbaren Menschenkörper durch.
- Um die Anhaftung an weltliche Aktivitäten und an weltliche Dinge abzuschneiden und die Trägheit zu überwinden, kontemplieren wir über die Vergänglichkeit.
- Um die Zusammenhänge aller Phänomene zu erkennen, kontemplieren wir über das Gesetz von Ursache und Wirkung (Skrt. Karma).
- Um die Anhaftung an diese Welt aufzugeben und uns vom endlosen Kreislauf des Daseins abzuwenden, kontemplieren wir über das Leiden im Samsara.
Die besonderen vorbereitenden Übungen (inneres Ngöndro)
- Zufluchtnahme: Um in den Pfad einzutreten, nehmen wir Zuflucht und machen Niederwerfungen.
- Reinigungspraxis: Um uns von negativem Karma zu reinigen, visualisieren wir Vajrasattva (tib. Dorje Sempa) und rezitieren sein Mantra.
- Mandala-Opferung: Um die zwei Arten von Verdienst anzusammeln, bringen wir Mandala-Opferungen dar.
- Guru-Yoga: Um den Segen des Meisters (Skrt. Guru) zu erhalten, praktizieren wir das Guru-Yoga.
Die außergewöhnliche vorbereitende Übung ist die Entwicklung von Bodhicitta. Dies ist der höchste Teil der Vorbereitungen. Es wird gesagt:
„Bodhicitta ist der einzige und höchste Weg,
um die vollkommene Erleuchtung zu erreichen.“
Damit ist der erste Teil des fünfteiligen Mahamudra-Pfad vollendet. Danach können wir voller Hingabe die tiefgründigen Übungen der Tantras praktizieren und schnell die Vollkommenheit erreichen.
2. Die Praxis des Vajrayana
Die Entwicklung von Bodhicitta und die Praxis der sechs Vollkommenheiten (skr. Paramitas) sind die Grundlage des Vajrayana-Fahrzeugs, das ein außerordentlich geschicktes Mittel zur Vollendung ist und ohne große Mühe und innerhalb kurzer Zeit zum direkten Erkennen der Buddha-Natur führt.
Die Praxis des Deva (skr., tib. Yidam)
Will man die Meditationen des Vajrayana praktizieren, ist es wichtig, die entsprechenden Ermächtigung und Übertragungen der Linie sowie die Erklärungen zur Meditation zu erhalten. Durch die Ermächtigung (skr. Abhisheka, tib. Wang) zur Praxis des Deva können wir uns mit der Meditationsgottheit identifizieren und eins mit ihr werden, sodass die gewöhnlichen Vorstellungen im Geist gereinigt werden. Das ist die besondere Methode zum vollständigen Erwachen des Geistes und zur Erlangung der Buddhaschaft. Dadurch können wir realisieren, was schon immer existiert hat. Die Visualisierung klärt und festigt den Geist durch Beharrlichkeit, sodass die Meditation nach einiger Zeit leicht durchzuführen ist. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Entschlossenheit.
Wenn wir diese Art der Meditation ausüben, ist es wichtig, einen ruhigen und reinen Geist zu entwickeln. Ruhe ist auf geistige Stabilität zurückzuführen und Reinheit auf Weisheit, die untrennbar von Leerheit und frei von störenden Gefühlen ist. Ferner sei gesagt, dass Visualisierungen unabhängig von Kulturen sind und sich nur in ihrer Klarheit entsprechend der geistigen Reinheit des Praktizierenden unterscheiden.
Das Guru-Yoga der vier Kayas
Es gibt vier Buddha-Körper:
- Nirmanakaya (der Emanationskörper)
- Sambhogakaya (der Freudenkörper)
- Dharmakaya (der Wahrheitskörper)
- Svabhavikakaya (der Naturkörper).
Obwohl die Lehren des Buddha vorhanden sind, kann man weder die Lehren noch die vielfältigen Pfade der Praxis ohne die Anleitung durch einen befähigten Lehrer verstehen. Der Lehrer ist jemand, der zeigt, wie man die Erleuchtung erreichen kann. Das Guru-Yoga der vier Kayas ist eine Methode, seinen Lehrer als Buddha zu betrachten und untrennbar von ihm zu werden.
Mahamudra – Das große Siegel
Mahamudra ist eine Methode zur Erkenntnis der wahren Natur aller Dinge. Weder Samsara noch Nirvana sind jenseits von Mahamudra. Da unser Geist durch Verwirrung und Unwissenheit getäuscht ist, nehmen wir nur den augenscheinlichen Aspekt der Dinge wahr, aber die äußeren Phänomene sind nur Aspekte unseres Geistes. Wir sind verwirrt und leiden sowohl durch Erwartungen als auch durch Furcht. Die grundlegende Ursache von Verwirrung und allen anderen Unzulänglichkeiten in Samsara ist die Unwissenheit, daher müssen wir die wirkliche Bestehensweise der Phänomene erkennen. Wenn man die innere Weisheit erlangt hat, ist man frei von Anhaftung und Furcht. Durch das Studium und die Praxis der Mahamudra erkennen wir, dass alle Erscheinungen Trugbilder und alle Wahrnehmungen Projektionen unseres Geistes sind. So ist es möglich, den absoluten Zustand des Friedens zu erreichen.
Um Mahamudra praktizieren zu können, ist es wichtig, die vorbereitenden Übungen und die Reinigungsübungen abgeschlossen und einen ruhigen und klaren Geist zu haben. Dann muss man einen spirituellen Meister aufsuchen. Diejenigen, die in der Praxis der Weisheit voranschreiten, besitzen die Achtsamkeit der Tugend, wodurch die störenden Gefühle beseitigt werden und die geistige Kraft zunimmt. Der Geist wird so unerschütterlich wie ein Berg, so tief wie das Meer und so weit wie der Raum. Man kann sich vom samsarischen Leben lösen, der Meditationspraxis zuwenden und an wahrem Frieden und Glück erfreuen.
Die Widmung des Verdienstes
Welcher Verdienst auch immer aus dem Studium und der Praxis entsteht, er sollte gewidmet werden, sodass alle fühlenden Wesen die Erleuchtung er-langen können. Wie ein Wassertropfen, der ins Meer fällt, sich mit diesem verbindet und nicht eher vergeht, bis das Meer ausgetrocknet ist, ebenso werden auch unsere Verwirklichungen, wenn wir sie allen Wesen widmen, mit allem verschmelzen und nicht eher vergehen, bis wir Erleuchtung er-langt haben. Von den Übungen des tiefgründigen fünfteiligen Mahamudra-Pfades ist die Widmung des Verdienstes eine der wichtigsten Übungen und sollte nicht vernachlässigt werden.
Teil 1: Auszug aus den Abschriften der Belehrungen zum Mahamudra-Pfad, wie sie von Drubpön Sönam Jorphel gegeben wurden.
Teil 2: Auszug aus „Auf der Suche nach dem reinen Nektar“, DKV
Zusammengestellt (gekürzt) von Tändsin T. Karuna, 2014