jangchub

Alles ist möglich

Eindrücke vom Beginn des Schlangenjahr-Programms
im Kloster Jangchub Ling, Dehra Dun, Indien

Der Pfad war kaum zu erkennen. Jedem Schritt mußte man in der Dunkelheit seine ganze Aufmerksamkeit widmen. Zum Glück waren zwei Mönche aus dem Kloster Jangchub Ling mit demselben Bus aus Delhi gekommen und begleiteten mich. Es schien, als würden sie jeden Stein, jedes Loch, jede Unebenheit des holperigen Pfades von der Straße zum Kloster kennen.

Es war der Vorabend des offiziellen Beginns des Schlangenjahr-Programms. Schon in Ladakh hatten die leeren Drikung-Klöster eindrucksvoll vermittelt, daß etwas besonderes stattfinden würde. Bis auf wenige Mönche hatten sich alle auf den Weg nach Dehra Dun gemacht, um dort in einem Zeitraum von ungefähr fünf Monaten Übertragungen, Einweihungen und Belehrungen zu erhalten. Die Übermittlung der einzigartigen Schriften der Drikung-Kagyü-Linie an die nächste Generation hatte Seine Heiligkeit Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche bewegt, dieses umfassende Programm zusammenzustellen.

So waren viele Nonnen und Mönche aus den verschiedenen Drikung-Klöstern in Indien, Ladakh, Nepal und Tibet gekommen. Die meisten waren in großen einfachen Zelten hinter dem Kloster untergebracht. Auch einige Praktizierende aus dem Westen und ostasiatischen Staaten hatten den Weg nach Dehra Dun gefunden.

Die Begrüßung durch Khenpo Rangdrol war sehr herzlich. Nach und nach traf ich auf immer mehr bekannte Gesichter. Lama Chönyi und die Mönche der Drikung Kagyü World Peace Tour waren von Seiner Heiligkeit mit der Organisation des Programms betraut worden, nicht zuletzt, weil sie auf ihrer Weltreise außer vielen Erfahrungen auch viele Bekanntschaften mit Praktizierenden gemacht haben. So fühlte auch ich mich durch die vielen Bekannten sofort wohl. Viel Zeit hatten sie jedoch nicht, da die letzten Vorbereitungen für die Eröffnung am nächsten Morgen liefen.

Mit Glückssymbolen bemalte große Tücher waren vor dem Haupttempel des Kloster aufgespannt, um die Teilnehmer vor der intensiven Sonneneinstrahlung zu schützen. An einem reichverzierten neuen Thron, der speziell angefertigt worden war, wurden die letzten Ornamente angebracht. Die Lautsprecheranlage, die auch unabhängig vom Stromnetz funktioniert, wurde getestet. Sitzmatten wurden ausgelegt und viele weitere Arbeiten galt es noch zu erledigen. Trotz der guten Organisation im Vorfeld der Veranstaltung ist am letzten Tag immer viel zu tun. Es herrschte dabei aber keine wie im Westen oft übliche Hektik.

Durch den Klang der langen Hörner um fünf Uhr in der Früh beginnt der Tag, gefolgt von dem Spiel der Gyalings. Das morgendliche Guru-Yoga des Kyobpa Jigten Sumgön, das täglich in den Drikung-Klöstern praktiziert wird, folgt anschließend. Während der Meditation wird das Frühstück gereicht, das meist aus Buttertee und wechselnden Brotarten besteht. Innerhalb einer Woche bekommt man somit neben Tsampa (geröstetes Gerstenmehl) auch Chapatti, Puri, Fladenbrot und Toastbrot angeboten.

Nach einer kurzen Pause begann die Eröffnungszeremonie. Eine von Seiner Heiligkeit entworfene Flagge, die die buddhistische Flagge mit dem Symbol der Drikung-Linie kombiniert, wurde zum ersten mal gehisst. Anschließend reichte man in traditioneller Weise S.H. und allen Anwesenden süßen Reis.

In seiner Eröffnungsansprache dankte S.H. allen, die dazu beigetragen haben, daß das Schlangenjahr-Programm in der vorgesehenen Weise durchgeführt werden kann. Speziell Drubwang Rinpoche hat alle Spenden, die er auf seiner Reise durch Europa und die USA erhalten hat, für die Durchführung des Programms zur Verfügung gestellt. Zudem brachte er aus Ladakh eine große Menge Butter und Tsampa mit. Aus allen Teilen der Welt kamen Spenden zusammen, die es ermöglichen, die 500 bis 800 Nonnen und Mönche über den langen Zeitraum hin zu verpflegen. Es ist eine außergewöhnliche Gelegenheit, gute Anlagen im eigenen Geist zu schaffen, wenn man ein derartiges Programm, das essentiell für den Fortbestand der Übertragungslinie ist, unterstützen kann.

Anschließend gab S.H. eine Einweihung, durch die es vielen ermöglicht werden soll, an dem Programm teilzunehmen. Den Abschluß der Eröffnung bildete eine Meditation auf Kyobpa Jigten Sumgön, den Gründer der Drikung-Kagyü-Linie, in Verbindung mit der Darbringung von Opfergaben.

Die äußeren gesammelten Werke von Kyobpa Jigten Sumgön waren die erste Textsammlung, die von S.H. übertragen wurde. Sechs Bände, die neu herausgegeben wurden, umfaßt diese Zusammenstellung. Eine Reihe von Mönchen, die die Eingabe der tibetischen Texte in den Computer erlernt haben, erstellten in monatelanger Arbeit die Vorlagen. Diese wurden dann mehrfach Korrektur gelesen und mit seltenen alten Texten verglichen, die S.H. im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Allein die mündliche Übertragung dieses Textes dauert einige Tage.

Im Laufe der Zeit entwickelte meine Tasse einen inneren Glanz. Der Buttertee, der während der Übertragungen eingeschenkt wurde, hinterließ diesen glänzenden Film, dem auch der süße Tee, den es ab und zu gab, nichts anhaben konnte. Vor dem Trinken des Tees wurde immer ein Gebet gesprochen, und häufig wurde in diesem Zusammenhang S.H. ein Mandala und die Symbole des erleuchteten Körpers (Buddha-Statue), der erleuchteten Rede (Dharma-Text) und des erleuchteten Geistes (Stupa) dargebracht. Klöster, Zentren oder Privatpersonen spendeten den Tee und manchmal auch Kataghs und kleinere Geldbeträge an die anwesenden Rinpoches, Lamas, Yogis, Yoginis und alle Nonnen und Mönche. Nur selten ist es möglich, einer so großen real versammelten Sangha Opfergaben darzubringen, und so wurde dies immer wieder praktiziert.

Ein Abstecher zu der im Bau befindlichen Songtsen Library, die als internationale Bibliothek von S.H. geplant und gebaut wird, hat mich wirklich erfreut staunen lassen. Vor gut einem Jahr, als ich für kurze Zeit in Dehra Dun war, hatte ich das Glück, an den Gebeten teilzunehmen, die auf demselben Grundstück von Drubwang Rinpoche, einigen Tulkus und Lamas durchgeführt wurden. Zu der Zeit war dort außer einer großen Wiesenfläche und einigen im Boden eingelassenen Fundamentsäulen, die einige Zentimeter aus der Erde standen, nichts zu sehen. Um so überraschter war ich jetzt, die vielen Gebäude zu sehen, die in architektonisch sehr ansprechender und solider Bauweise wie aus dem Boden gewachsen schienen. Sogar ein Wasserturm ist im Bau, der die unregelmäßige Wasserversorgung ausgleichen soll. Ich mußte an den Ausspruch S.H. denken, der die zurückhaltende Reaktion auf seine zukünftigen Pläne ("We will see what is possible.") mit einem eindringlichen "Everything is possible!" beantwortete. Und was alles möglich ist, äußerlich wie innerlich, wird einem in Jangchub Ling immer wieder vor Augen geführt.

 Wer auch immer die Möglichkeit hat am Schlangenjahr-Programm teilzunehmen, sollte die Gelegenheit nutzen. Außer S.H. werden auch andere hohe Rinpoches wie S.E. Garchen Rinpoche, S.E. Togdän Rinpoche und S.E. Ontul Rinpoche Übertragungen und Einweihungen geben. Auch wenn man nicht persönlich nach Dehra Dun reisen kann, so kann man durch eine finanzielle Unterstützung, in welcher Höhe auch immer, zu dem Programm beitragen.

Ani Elke wird im Januar nach Dehra Dun fahren, und wir als Zentrum würden dort gerne S.H., den Rinpoches, Lamas und vielen Nonnen und Mönchen Tee und weitere Gaben überreichen. Jede/r ist herzlich eingeladen, sich durch eine Spende daran zu beteiligen.

Könchog Paglam (Christian Licht)

Aus Rundbrief 1/2001