Mustang

Die Esel auf der Hängebrücke

In den drei Jahres meiner Arbeit in Nepal hatte ich fast alle Landschaften dieses einzigartig herrlichen Landes gesehen. Nur ein Gebiet entzog sich meiner Neugier immer wieder: das kleine Hochgebirgskönigreich Mustang, im äußersten Zipfel des Nordens, direkt an der Grenze zu Tibet gelegen. Alle Quellen und Augenzeugenberichte der seltenen Besucher, beschrieben es als den Gipfel landschaftlicher Schönheit, vollkommener natürlicher Reinheit, gesunder Menschen und Tiere. Weite Hochtäler, windgeschützt durch die über 7000 m hohen Annapurna-Gletschermassen, in denen sogar Apfelplantagen existieren sollten, aus deren Früchten ein wohlschmeckender Calvados-Brandy hergestellt wird. Geheimnisvoll und sagenumwittert, und mit einem mystischen Schimmer umgeben.

Ein schwieriger Beginn

Bisher scheiterten alle meine Versuche es zu besuchen. Mehrere Male wurden meine Anträge für eine staatliche Besuchserlaubnis mit Hinblick auf Spannungen mit China abgelehnt. Sei es, dass die Abteilung für Tourismus in Kathmandu auf Anfragen immer wieder geantwortet hatte, dass es sich nicht lohne, die Strapazen auf sich zu nehmen, um schneebedeckte Berge zu sehen – die gäbe es auch in Pokhara – oder man raunte mir vorsichtig ins Ohr: die bösen Geister gehen in verwirrender Weise um, dort oben über 6000 Meter. Und, noch schrecklicher, in den tiefsten Schluchten der Welt, des alles beherrschenden Flusses Kali Gandaki versammeln sich die Dämonen. Man erzählte mir wahre oder erdachte Geschichten und Legenden von abenteuerlichen bis absurden Ereignissen, die sich dort zugetragen haben sollten. Als ich das einem Freund in Kathmandu berichtete, fragte er: „Wie viele Dollar hast Du in Deinen Pass gelegt?“ „Keine natürlich!“, entgegnete ich. „Natürlich ist hier, es zu tun – also lass mich das machen.“ Zum Mittagessen am nächsten Tag brachte er die Besuchserlaubnis mit. Alles das stachelte meine Entdeckerlust nur noch mehr an.

Da ich genug von Ratschlägen, Warnungen und Hinweisen hatte, beschloss ich, alleine und ohne irgendeine, wie immer geartete, äußere Beeinflussung, Mustang zu besuchen. „Gott wird mir helfen und mich beschützen. Wie so oft!“ sagte ich mir.

Von Pokhara aus nahm ich ein Taxi, das mich nach Beni und Tatopani brachte. Dort erfuhr ich von den heißen Quellen. Nachdem ich ein Zimmer im Gasthaus gemietet hatte, besuchte ich diese. Verwundert stellte ich fest, dass sie sich nur wenige Meter neben dem reißenden Kali Gandaki Fluss befanden. Man konnte nach dem Baden in den 33 Grad heißen Wasserbecken, sich nach ein paar Schritten in das kalte Wasser des Gletscherflusses setzen. Ein natürliches Kneipp-Bad im Himalaja.

Als ich im Gasthaus nach dem Weg hinauf ins geheimnisvolle Mustang-Hochgebirge fragte, erklärte man mir, am besten im Restaurant Snowlion mit den Muli-Treibern zu sprechen. Die würden alle Wege sehr genau kennen. Aber eine Freirunde Calvados wäre die Bedingung für die Öffnung der Gesprächsbereitschaft.

Nichts geht ohne Muli

Nachdem wir uns alle zugeprostet hatten, legten sie los: „Wollen Sie da wirklich hinauf?“ frage einer von ihnen. „Warum fliegen Sie nicht von Pokhara? Es gibt doch eine Verbindung nach Jomsom mit den russischen Hubschraubern. So alt die auch sind, aber bisher ist noch keiner von denen abgestürzt – im Gegensatz zu den Fliegern, die alle naselang wie Sternschnuppen vom Himmel fallen.“ Alle lachten und verlangten nach einer weiteren Runde. „Ist bequemer und zeitsparend,“ meinte ein anderer „denn an einem Tag schaffen Sie es kaum. Und wenn die Nacht sie überrascht, werden Sie erfrieren. Das sind keine gut ausgebauten und bequem gepflasterten Wege. An denen bauen sie schon seit vier Jahren, aber immer zerrinnt das Geld. Sie verstehen? Das sind gefährliche Pfade, auch für uns.“

„Ja,“ fügte ein Dritter hinzu und nahm seine Mütze vom kahlen Kopf, kratze sich ausgiebig, holte mit dem kleinen Finger Allerhand aus den Ohren „wenn unsere besten Freunde, die Hochland-Mulis uns nicht vorangehen würden, würden wir uns oft selber nicht auf diese winzigen Pfade trauen, ehrlich! Stimmt, oder?“ fragte er in die Runde. Alle nickten und klatschten.

„Was machen Sie denn mit den Mulis?“ fragte ich neugierig, (denn mir blitzte die Idee auf, vielleicht auf einem dieser Muli hinauf zu reiten). „Man merkt, dass Sie nicht von hier sind“ rief der Glatzköpfige. „Bishnu, erklär Du es ihm, Du kannst besser reden!“. Bishnu beugte sich zu mir und sagte: „Seit Jahrhunderten transportieren wir auf unseren speziellen Mulis alle Waren von Lo Manthang, nahe der tibetischen Grenze (wo auch manches geschmuggelt wurde und wird) hinunter bis hierher nach Tatopani, früher sogar bis Beni. Besonders Salz, das in Säcken auf die Tiere gepackt wurde. In Beni tauschten sie das kostbare Salz gegen Esswaren
oder Gebrauchsgüter, alles was da oben im Königreich in vier- bis siebentausend Metern Höhe benötigt wurde.“ Er langte nach seinem Bierglas und sagte „Prost – muss meine Kehle mal ölen.“ Nachdem er sich mit dem Jackenärmel den Mund abgewischt hatte, fuhr er fort: „Heute ist es auch nicht so viel anders, nur transportieren wir nicht Salz, sondern riesige mit Gas gefüllte Behälter, wie sie normalerweise beim Camping benutzt werden, da hinauf. Holz gibt es oben kaum noch. Außerdem Lebensmittel, verpackt in Kisten, Fernseher usw. Diese Mulis sind unsere lebendigen Transportmaschinen. Kräftig, zäh, ausdauernd, aber leider stur. Was ihnen einmal eingetrichtert wurde, geht nie wieder raus aus den Köpfen.“ Alle Treiber lachten. „Stur, das kann man wohl sagen!!!“

Es geht los

Am nächsten Tag bereite ich alles vor. Eine innere Stimme fragte mich, ob ich das Unternehmen nicht lieber abbrechen wolle?“ Ich setzte mich in die heißen Quellen, kühlte die dampfenden Glieder am Ufer des Kali Gandaki und fühlte mich kräftig und fröhlich.

Als ich im Gasthaus nach einem Muli zum Reiten fragte, lachte mich der Wirt aus. „Auf den sturen Dingern können nicht einmal die bösen Berggeister reiten. Die sind nur für die Transporteure. Nee, das lassen sie mal! Wenn Sie unbedingt da rauf wollen, müssen Sie zu Fuß die Pfade bis Kalapani hinauf wandern, ca. fünf bis sechs Stunden. Von dort können Sie in der Hochebene auf die Jeeps aufsitzen bis Jomsom, dem Hauptort. Da gibt es auch Hotels. Es gibt einen gut gekennzeichneten und ausgetretenen Muli-Pfad. Außerdem werden Sie einigen Transportgruppen von 40 bis 60 Mulis und ihren Treibern, die von oben nach unten und umgekehrt ziehen, begegnen. Aber brechen Sie am besten bei Sonnenaufgang vom Gasthaus auf. Wenn Sie wollen, kann Raju, mein Sohn, Sie morgen früh abholen und ein Stück begleiten. Und wenn sie dann zurückkommen, wohnen Sie wieder bei uns.“

„Danke, das ist sehr nett. Ich werde mich erkenntlich zeigen!“ „Naja, wenn Sie ihm etwas geben, freut er sich, aber noch besser, Sie erzählen ihm von Europa und wie man dort eine gute Schule besuchen kann und was man da alles lernen kann. Hier ist es damit nämlich reichlich schwierig.“

Als die Sonne langsam durch den Nebel, der das grüne Tal mit den Dämpfen der heißen Quellen, den Kiefern und Gräsern erfüllte, hindurchstrahlte, brachen wir auf. Raju, ein aufgeweckter 14-jähriger Junge, freute sich auf die Begleitung und zerstreute damit meine gemischt ängstlichen Gefühle. „Ich bin ein guter Berg-Guide“, sagte er. „Musst Du denn nicht in die Schule?“ „Nein, zum Glück nicht, unsere Dorfschule ist nur freitags bis sonntags. Wenn die Lehrerin in Beni frei hat. Sonst führe ich Touristen“. „Du kommst mit bis nach Kalapani?“ wunderte ich mich. Raju lachte, „Nein, nein… nur bis zur ersten Hängebrücke. Da muss man nämlich aufpassen. Bevor Sie auf die Brücke gehen, müssen Sie stehenbleiben und lauschen. Und wenn Sie sieben Gongschläge hören, dürfen Sie nicht auf die Brücke gehen. Dann kommt nämlich eine Muli Karawane.“ „Ach ja“, sagte ich. „Kann ich denn nicht an der Seite der Mulis vorbeigehen?“. „Oh nein!“ staunte Raju über die Frage. „Diese Hängebrücke führt in 400 Metern Höhe über den Kali Gandaki Fluss. Deshalb ist sie sehr stabil gebaut, aber nur so breit, dass immer nur 1 Muli mit seinen Gasflaschen gerade so gehen kann. Sonst würden die hin und her wackeln und vielleicht umfallen. Neben den Mulis ist überhaupt kein Platz, nicht einmal zehn Zentimeter.“

Als wir an der ersten Hängebrücke anlangten, verabschiedete sich Raju. „Viel Spaß und passen Sie auf… damit wir uns wiedersehen!“ „Danke Raju. Warst Du schon einmal in Mustang?“ „Leider nicht!“ meinte er etwas maulend. Aber es soll wunderschön sein. Mein Papa sagt immer, dass er sich so das Paradies vorstellen würde!“ Dann ging er und winkte noch eine Weile.

Die Begegnung

Ich stand vor der Brücke und lauschte. Alles, was ich hörte, war das Rauschen des 400 Meter tiefer vorbeiströmenden Flusses. Kein Gongschlag war zu hören. Also schritt ich mutig auf die weite Brücke, hielt mich bequem an den Seitenriemen fest. Die Brücke schaukelte etwas, schwankte, aber hielt. „Was denkst Du denn,“ hörte ich eine innere Stimme „wenn sie eine ganze Karawane von Mulis hält, wird sie wohl deine 80 kg aushalten.“ Die Wolken waren weggezogen, die Sonne hatte gesiegt und strahlte. Das Tal dampfte. Ungefähr in der Mitte der Brücke, blieb ich stehen und spähte vorsichtig hinunter – und staunte. Da erbebte die Brücke plötzlich. Ein Muli hatte die Brücke erreicht und rannte auf ihr los, weitere folgten in geringem Abstand. Kein einziger Gongschlag war da gewesen. Muli um Muli rannte auf der Brücke auf mich zu. Ich drehte mich zum Brückenanfang um und überlegte, ob ich zurücklaufen sollte. Das wird nicht gehen. Das Tempo der Mulis ist höher. Du wirst es nicht schaffen. Aber was wird dann passieren? Hier in 400 Meter über dem Abgrund? Mein Hirn arbeitete fieberhaft.

Alles vorbei? Keine Möglichkeit? Alles in meinem Kopf raste. Und automatisch formten sich Hilfeschreie in mir: „Hilfe, Herr Gott, alle Ihr Heiligen, helft! Helft! Ich flehe, bitte, Hiiiiiilfe rief ich so laut ich konnte. Das erste Muli war nur noch etwa 10 Meter von mir entfernt. Ich schaute auf die Seitenbefestigungen. Nein, da konnte ich nicht hin, Raju hatte Recht, da konnte man sich nicht vorbeidrücken. Aber was dann? Sollte ich hier, am Ende der Welt zerquetsch werden? „Spring auf das erste Muli“ hörte ich eine Stimme in mir. „Das ist doch völlig absurd“, sagte ich schnell vor mich hin, „Es wird straucheln und wir beide werden stürzen und die anderen über uns drüber trampeln … das völlige Chaos…“ In mir donnerte die Stimme: „Spring auf das erste Muli und krall dich fest. Los spring……und lauter werdend, nahm es mein ganzes Sinnen ein, sodass ich es tat. Ich holte tief Luft und sprang, so intensiv aber vorsichtig ich konnte von vorne auf das Tier und klammerte mich an den Stricken der Verpackungen fest. Es wankte hin und her, schüttelte sich etwas. Ich kletterte weiter und lag schließlich wie eine zusätzliche Last auf dem Tier. So erreichten wir das Ende der Brücke. Ich ließ mich auf die feste Erde fallen, während die Muli-Karawane weiterrannte. Der Muli-Treiber am Ende winkte mir zu und sagte: „Das nächste Mal schlage ich wieder auf den Gong. Schönen Tag noch!“

Ernst Sagemüller