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Gebetsfahnen hissen

Einer der vielen Bräuche innerhalb der nomadischen Gemeinschaften von Tibet, die sich in mehreren tausend Jahren sehr wenig verändert haben, ist das Hissen von Fahnen, um das Glück zu sichern. Dass die ursprüngliche Benutzung von Fahnen in Tibet von militärischer Bedeutung war, wird durch den tibetischen Begriff „Ru-dar“ illustriert, der als Fahne, Flagge oder Banner übersetzt werden kann. „Ru“ bezieht sich auf das Sammeln von Nomaden, bevor sie zusammen zu frischen Weidegründen weiterzogen. Dieses Versammeln bezog sich in einem anarchischen Sinn auch auf eine Art Armee. Die Banner (ru-dar), die in alter Literatur gefunden wurden, waren militärische Flaggen. Die Bedeutung dieses Rituals hat sich schrittweise von einer militärischen zu einer religiösen Bedeutung entwickelt.

In der Bön-Tradition begann das Aufhängen von Fahnen religiöse Bedeutung anzunehmen. In den Ecken einiger dieser Flaggen befanden sich Bilder von einem Tiger, einem Schneelöwen, einem Garuda und einem Drachen und im Zentrum von einem Pferd. Um das Pferd herum war ein Mantra aus der Bön-Tradition geschrieben sowie ein Vers, der lautete: „Möge das Pferd des Glücks schnell laufen und sich die Kraft des Lebens, des Einflusses, des Glücks, des Reichtums, der Gesundheit usw. erhöhen.“

Das Schreiben von Mantras auf Stoff, um eine Fahne von religiöser Bedeutung herzustellen, kann zurückverfolgt werden bis zu den Shang-Shung-Lehren, einer Sammlung von Bönpo-Lehren, die besagt, dass ein Mantra, wenn es in fünffarbige Seide eingewickelt und hoch in den Bergen platziert wird, jeden, der es sieht, mit den günstigen Umständen ausstattet, die Erleuchtung zu erlangen. Wenn man ein auf diese Weise eingepacktes Mantra auf der Spitze eines Siegesbanners befestigst und zu ihm betet, es verehrt und kostbare Opferungen darbringt, wird man, laut der Tradition, alle seine Ziele erreichen.

Die beschützende Kraft von Mantras wird in einer Geschichte beschrieben, in der der Buddha Indra, den König der Götter, anwies, das Mantra, das in dem Gebet „Ornament auf der Spitze des Siegesbanners“ enthalten ist, auswendig zu lernen und zu tragen, so dass er in Zukunft siegreich sein und weder Angst noch Schrecken verspüren würde. Große Meister haben rituelle Texte geschrieben, um „Dra-lha“ zu preisen. Dies ist eine Gottheit, die hilft, Hindernisse und Feinde zu überwinden. Das Hissen von Dra-lha-Flaggen dient dazu, dass der Dharma (die Lehre des Buddha) blüht und dass das Wohlergehen aller fühlenden Wesen gefördert wird.

Es gibt viele Arten von tibetischen Fahnen, zum Beispiel den „dar-ding“, eine lange Schnur von Fahnen, die horizontal zwischen Bäumen oder Gebäuden flattern und den „dar-chen“, eine schmale Fahne, die an einem Mast aufgespannt wird. Tibetische Gebetsfahnen können die fünf Farben blau, weiß, rot, grün und gelb haben, was jeweils den Raum, Wind, Feuer, Wasser und Erde symbolisiert. Wenn wir diese Farben auf die Elemente beziehen, symbolisiert blau das Wasser, grün symbolisiert Holz, rot Feuer und weiß Eisen. Es gibt auch eine Tradition, Flaggen aufzuhängen, die die Elemente des eigenen Körpers repräsentieren (Erde, Wasser, Feuer, Wind, Geist).

Fahnen werden an glücksverheißenden Tagen oder bestimmten Wochentagen gehisst und wenn die Sterne nach dem tibetischen Kalender in einer glücksverheißenden Konstellation stehen. Von Familien werden sie im Zusammenhang mit ökonomischen Hintergründen und zu wichtigen Gelegenheiten wie dem dritten Tag des neuen tibetischen Jahres, zu Hochzeiten und offiziellen Tätigkeiten aufgehängt. Sie werden auch gehisst, wenn sich Störungen oder Krankheiten ereignen, um weiteres Unglück abzuwenden.

In einigen Teilen Tibets versammeln sich die Gäste während der Hochzeitszeremonie auf dem Dach des Hauses des Bräutigams und vollziehen ein Ritual, in dem die Braut die Gebetsfahnen berührt. Diese Fahnen werden dann auf dem Gebäude gehisst, welches die Schützer des Grundstückes beherbergt und es werden Opferungen von Räucherstäbchen dargebracht. Von diesem Moment an wird die Braut ein Mitglied der neuen Familie. Nach dem ersten Jahr der Ehe kehrt die Braut in ihr Elternhaus zurück und vollzieht wiederum die gleiche Zeremonie. Indem sie das tut, trennt sie sich dann von ihrer Ursprungsfamilie.

Fahnen werden auch als Schutz gegen Schaden und Unglücke benutzt, z.B. wenn man verreist. Bevor Passagiere ein Boot besteigen, um einen Fluss zu überqueren, führen sie eine Zeremonie aus, in der Fahnen an einer pferdeförmigen Galionsfigur am Bug des Bootes befestigt werden. Es werden Gebete gesprochen und Räucherwerk und Getreide geopfert. Auf diese Weise versichern sie sich einer sicheren Überfahrt über den Fluss.

Ursprünglich waren Flaggenzeremonien dazu gedacht, Nutzen in diesem Leben zu bewirken, aber als sie schrittweise mit religiöser Bedeutung durchtränkt wurden, wurden sie mit dem Nutzen in zukünftigen Leben und dem Erlangen von spirituellem im Gegensatz zu materiellem Erfolg verbunden. Obwohl sich die heutigen Zeremonien und Rituale sehr wenig verändert haben, hat die Bedeutung und der Inhalt der Rituale durch die Vermischung von Symbolen aus der Tradition des Bön und des Buddhismus schrittweise ein spirituelles Element entwickelt.

(aus „Me-long“, der Zeitung des Rates für religiöse Angelegenheiten von S.H. dem Dalai Lama, No. 7, Dezember 1990, ins Deutsche übersetzt von Annette Oberschelp in DSML Aachen, 2006, hier leicht gekürzte Wiedergabe)

Anmerkung: Trotz oder vielleicht gerade wegen der wissenschaftlichen Ausrichtung in den westlichen Ländern, die emotionale Bedürfnisse manchmal unberücksichtigt lässt, erfreuen sich Gebetsfahnen immer größerer Beliebtheit. Die farbigen Stoffe, die im Wind flattern, wodurch die aufgedruckten guten Wünsche und Gebete verteilt werden sollen, sprechen auch Menschen an, die sich eigentlich wenig aus Ritualen machen und eher intellektuell orientiert sind. Gerade die Einfachheit berührt das Menschliche in uns, für einen Moment erfasst uns der Zauber einer tieferen Bedeutung und wir lassen eine stille Hoffnung und Sehnsucht in die Weite des Raumes ziehen:

Mögen alle Wesen Glück und Frieden erleben.
Möge jenseits der Vergänglichkeit die ewige Natur des Geistes scheinen
wie die Sonne, nachdem die Wolken vom Wind zerstreut worden sind.
Möge alles Leiden der Daseinsbereiche beendet
und der Frieden des Nirvana erlangt werden.

Aus Rundbrief 3/2008