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Die Kontinuität der Übertragungslinie

Fragen an S.H. Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche

Hun Lye (HL): Eure Heiligkeit, können Sie mir bitte eine kurze Einführung in die Tradition der Belehrungen zum Schlangenjahr geben?

Seine Heiligkeit (SH): In der Drikung Kagyü Linie gibt es die Tradition, spezielle Belehrungen und Übertragungen während des Schlangenjahrs, des Affenjahrs und des Schweinjahrs abzuhalten. Daher kann man sagen, daß die Schlangenjahr-Belehrungen alle 12 Jahre gegeben werden. Im Zusammenhang mit diesen besonderen Schlangenjahr-Belehrungen werden wir zudem einige spezielle Übertragungen vor den eigentlichen Belehrungen erteilen (die im Februar 2001 eine Woche lang dauern werden). Diese speziellen Übertragungen werden über einen Zeitraum von nahezu drei Monaten weitergegeben werden, und sie werden insbesondere alle Lehren und Praktiken der Drikung Kagyü Linie umfassen.

Der Zweck dieser Übertragung besteht darin, sicherzustellen, daß die nächste Generation der Drikung Kagyü-Lehrer und -Schüler die reine Linie ungebrochen weiter fortsetzen kann. Diese spezielle Übertragung wird bis zum Tibetischen Neujahr (im Februar) dauern, wonach das Schlangenjahr beginnt. So werden wir nach den Tibetischen Neujahrsfeierlichkeiten die eigentlichen Belehrungen zum Schlangenjahr abhalten. Diese werden etwas mehr als eine Woche dauern, aber danach werden wir mit den Übertragungen der speziellen Kagyü-Belehrungen fortfahren und sie vervollständigen. Danach können wir, sofern wir Zeit dazu haben und falls es besondere Fragen oder Wünsche gibt, weitere über die geplanten hinausgehende Belehrungen geben. Das hängt davon ab, wieviel Zeit uns bleibt.

Soweit bisher feststeht, werden alle Einweihungen (tib.: "wang" und "je nang") und mündlichen Übertragungen (tib.: "lung"), die in den Gesammelten Werken von Phagmo Drupa (4 Bücher), Kyobpa Jigten Sumgön (13 Bücher), Kunga Rinchen (4 Bücher), Rinchen Chödrak (15 Bücher), Pema Gyaltsen (4 Bücher), Chökyi Gyaltsen (4 Bücher), Rinchen Phuntsok (4 Bücher) und Thrinley Sangpo (1 Buch) begründet sind, gegeben – wir werden all diese übertragen.

Wenn wir mehr Zeit haben, werden wir außerdem die "Gesammelten Werke von Chöje Gampopa" (4 Bücher) übertragen und uns dann rückwärts zu Milarepa, Marpa, Naropa, Tilopa und den anderen Werken der Indischen Siddhas zum Mahamudra durcharbeiten. Wir werden versuchen, auch die mündliche Übertragung der 3 Haupttexte von Dakpo Tashi Namgyal – die "Mondstrahlen des Mahamudra", "Sonnenstrahlen des Hevajra" und die "Juwelenstrahlen des Tantra" – also die berühmten "Drei Strahlen von Dakpo Tashi Namgyal" zu vermitteln. Daneben werden wir versuchen, die "Achi Pebum" (die Belehrungen im Zusammenhang mit Achi Chökyi Dölma), die Mahakala-Gönpo-Belehrungen und andere zu geben, wenn Zeit dazu bleibt. Dieses Mal werden wir uns hauptsächlich auf die zentralen einzigartigen Belehrungen der Drikung Kagyü konzentrieren. Dann, in den folgenden Affenjahr-Belehrungen, wird es um die Übertragung der allgemeinen Belehrungen der Kagyü-Linie gehen.

Weil wir zum ersten Mal etwas so Umfangreiches machen, wissen wir nicht genau, wieviel Zeit wir brauchen werden, um all die Belehrungen zu geben. Wenn wir also genug Zeit haben, möchten wir auch die essentiellen Anweisungen (tib.: "tri") zum Gongchig ("Eine Intention" – Die Essenz der Belehrungen von Kyobpa Jigten Sumgön), zu Ten-nying ("Die Essenz des Mahayana"), zu Chag-chen Ngaldän ("Der tiefgründige fünfteilige Pfad des Mahamudra") und zu Naro-chodrug ("Die sechs Yogas des Naropa") vermitteln. Daneben, falls die Zeit reicht, werden wir ein einwöchiges Drubchen-Retreat ("Die großen Vervollkommnungen") abhalten, bei dem drei Drubchen zugleich ablaufen: – Chakrasamvara, Hevajra und Guhyasamaja. Indem wir all das tun, geben wir die vollständige Erfahrung an die jüngere Generation weiter. Das ist es, was wir geplant haben.

HL: Was ist denn der Inhalt der "Gesammelten Werke" dieser Meister, die übertragen werden?

SH: In der Hauptsache sind es Belehrungen, Sadhanas und einige Einweihungen. Eigentlich gehören die Einweihungen nicht zu den Gesammelten Werken – wir werden viele verschiedene Einweihungen während der gesamten Übertragung geben. Zum Beispiel gibt es da die sieben großen Mandalas der Höchsten Yoga-Tantra-Ebene, viele verschiedene Mandalas der drei niedrigeren Tantras, die fünfzig Erlaubnis-Einweihungen von Kyobpa Jigten Sumgön und Einweihungen vom Kagyü Ngag Dsö und vom Dam Ngag Dsö.

HL: Wie wird der Ablaufplan während der drei oder vier Monate der Übertragung aussehen?

SH: Der wird ziemlich intensiv sein, da wir eine große Anzahl Übertragungen innerhalb kurzer Zeit vermitteln müssen. Daher wird es viele Veranstaltungen pro Tag geben, und wir gehen davon aus, daß wir pro Tag 10 bis 12 Stunden für die Übertragungen und Einweihungen brauchen werden. Der Abschnitt der mündlichen Übertragungen wird im Oktober beginnen. Und in den drei Monaten, die im Dezember beginnen, wird es hauptsächlich Einweihungen geben. Ich hoffe, drei Monate werden ausreichend sein, um alle Einweihungen zu übertragen.

HL: Die Organisation und Durchführung solch einer Veranstaltung verlangt offensichtlich eine Menge finanzieller Unterstützung, Zeit und Anstrengung und ist keine einfache Aufgabe. Was ist der Grund für eine solche Veranstaltung, und für wen ist sie hauptsächlich gedacht?

SH: Die vollständige Übertragung der Drikung Kagyü Linie, die wir durchführen, richtet sich in erster Linie an Drikung Kagyü-Rinpoches, Mönche, Nonnen und Praktizierende der nächsten Generation. Aber wenn Laien Zeit und Interesse haben, können sie genausogut teilnehmen. Die Schlangenjahr-Belehrungen, die im Februar 2001 beginnen, sind der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich, wie es seit Generationen praktiziert wurde.

HL: Wie viele Rinpoches, Khenpos, Lamas, Mönche und Nonnen werden zu den Übertragungen erwartet?

SH: Wir wissen nicht, wie viele wirklich kommen werden. Viele Rinpoches, Mönche und Nonnen würden gerne aus Tibet kommen, aber wir müssen abwarten, ob das möglich ist. Aber viele werden aus Ladakh kommen. Wir rechnen mit 500 bis 800 Teilnehmern.

HL: Warum ist die Übertragung wichtig?

SH: Im Tibetischen Buddhismus ist eine ununterbrochene Linie sehr wichtig, vor allem, wenn es um Tantrische Belehrungen geht. Deshalb liegt es in der Verantwortung dieser und künftiger Generationen, die Linie rein und intakt zu halten, was durch eine solche Übertragung gewährleistet ist. Deshalb tun wir das, auch wenn es so schwierig ist. Aber es ist absolut notwendig.

HL: Welche Belehrungen werden zum traditionellen Schlangenjahr im Februar 2001 gegeben?

SH: Gemäß unserer Tradition die große Buddha Shakyamuni-Einweihung und die Große Drikung-Bodhicitta-Gelübde-Übertragung ("Drikung Semkyi Chenmo"). Weil der Tibetische Buddhismus der Mahayana-Tradition folgt, ist das Bodhicitta-Gelübde sehr wichtig. In der Drikung Kagyü Linie wird großes Gewicht darauf gelegt. In Verbindung mit der Übertragung dieses Gelübdes ist es traditionellerweise üblich, so viel Verdienst wie möglich mit umfangreichen Opferungen von Tormas, Butterlampen, Speisen und anderen Dingen anzusammeln. Tatsächlich werden einige Tormas mehr als drei Meter hoch sein. Nach diesen Opferungen und nach der Ansammlung des siebenteiligen Gebets wird das Bodhicitta-Gelübde selbst zwei Tage lang übertragen. Man kann sagen, daß das eines der größten Ereignisse in unserer Linie ist. Das Einzigartige an dieser Übertragung der Bodhicitta-Gelübde besteht darin, daß neben der üblichen Übertragung des Relativen Bodhicitta-Gelübdes auch das Absolute Bodhicitta-Gelübde übertragen werden wird. Das geschieht in anderen Linien nicht. Das Absolute Bodhicitta-Gelübde ist Mahamudra – die Natur des Geistes. Wie können diese Belehrungen öffentlich gegeben werden? Natürlich werden heutzutage Mahamudra-Belehrungen ziemlich offen und unkompliziert weitergegeben. Aber dieses Absolute Bodhicitta-Gelübde der "Großen Drikung Kagyü Bodhicitta-Gelübde-Übertragung" basiert auf einer sehr speziellen Erläuterung von Kyobpa Jigten Sumgön. Und deshalb haben wir diese außerordentlich einzigartige Tradition. Als Teil der Übertragung wird es eine öffentliche "Einführung in die Natur des Geistes" geben – etwas, das normalerweise nicht öffentlich und ganz bestimmt nicht vor so vielen Menschen auf einmal geschieht. (Anmerkung des Herausgebers: In Tibet reisten Tausende von Menschen aus dem ganzen Land an, um an den Schlangen-, Affen und Schweinjahr-Belehrungen teilzunehmen, ganz gleich, ob sie selbst Drikung Kagyüpas waren oder nicht). Aber während der "Großen Drikung Kagyü Bodhicitta-Gelübde-Übertragung" kommt es dazu. Deshalb ist dies einzigartig.

Daran wird sich die Vermittlung einer anderen großen Drikung Kagyü-Belehrung anschließen – die "Große Drikung Kagyü Phowa Übertragung" ("Drikung Phowa Chenpo"), die als weitere einzigartige Tradition in Tibet seit Hunderten von Jahren bekannt ist. Die aktuellen Schlangenjahrbelehrungen werden eine besondere Langlebenseinweihung enthalten.

HL: Hat seine Heiligkeit einen Rat für nicht-tibetische Praktizierende, die sich für die Teilnahme an den Belehrungen interessieren?

SH: Im allgemeinen haben Praktizierende aus aller Welt nicht so viel Zeit übrig, um an der gesamten Übertragung teilzunehmen. So wird es schwierig für sie sein, das gesamte Programm zu absolvieren, das zwei Monate mündliche Übertragungen und drei Monate Einweihungen enthält. Aber wenn sie kommen möchten, können sie dies für eine oder zwei Wochen tun. Wir haben verschiedene Teile des Programms für verschiedene Gruppen von Praktizierenden gekennzeichnet, je nachdem, woher diese kommen. Die Teilnehmer können sich an speziell dafür eingesetzte Leute in ihren jeweiligen Gebieten wenden und mehr Informationen über diese Zusammenhänge bekommen. Sie können eine Woche an den Belehrungen teilnehmen und dann eine Woche lang Pilgerorte wie z.B. Bodhgaya, Sarnath und Lumbini besuchen. Das wird sehr sinnvoll sein.

HL: Dieses Programm erfordert eine Menge Vorbereitungen…

SH: Ja, wir haben damit Anfang des Jahres 2000 angefangen. Wir planen, daß während der drei Monate der Einweihungen fünf Klöster die Verantwortung für die Vorbereitungen, rituellen Opferungen, die Musikinstrumente, etc. tragen werden. Jedes Kloster wird für 25 Tage diese Verantwortung übernehmen – Shachukhul, Phiyang und Lamayuru in Ladakh (unter der Schirmherrschaft von H.E. Ladakh Chöje Togdän Rinpoche), das Kagyüpa Kloster in Mysore (Ven. K.C. Ayang Rinpoches Kloster) und das Drikung Kagyü Kloster in Tsopema (Ven. Drikung Ontul Rinpoches Kloster) und schließlich Jangchub Ling (das Zentrum der Hauptaktivität Seiner Heiligkeit Drikung Kagyü Chetsang Rinpoches in Indien).

HL: Kann Eure Heiligkeit uns ein bißchen mehr über die Schlangen-, Affen- und Schweinjahrbelehrungen erzählen?

SH: Man weiß nicht viel darüber, wann genau die Tradition dieser Belehrungszyklen anfing, und es gibt dazu wenig Untersuchungen. Aber im allgemeinen wurden diese Zyklen alle zwölf Jahre von drei verschiedenen Klöstern im Drikung-Gebiet in Zentraltibet durchgeführt. Traditionellerweise wurden die Schlangenjahr-Belehrungen im Yangri Gar Kloster, die Affenjahr-Belehrungen im Drikung Sumdo Kloster und die Schweinjahr-Belehrungen im Drikung Thil Kloster abgehalten. Warum wurden diese besonderen Jahre gewählt? Nun, das Schweinjahr ist das Jahr, in dem Kyobpa Jigten Sumgön geboren wurde, während Guru Rinpoche im Affenjahr geboren wurde. Was das Schlangenjahr betrifft, so wurde Rinchen Phuntsok damals geboren. Rinchen Phuntsok ist der siebzehnte Thronhalter der Drikung Kagyü Linie, der die Linie wiederbelebt hat, als sie geschwächt war. Auch war Rinchen Phuntsok ein "Entdecker der verborgenen Schätze" (tib.: "tertön"), der den Yangzab Zyklus der Dzogchen Belehrungen wiederfand. Der Yangzab Zyklus ist ein besonderes Dzogchen-System, das vor allem von der Drikung Kagyü Linie gehalten wird.

HL: Wird der Yangzab Zyklus in der Übertragung enthalten sein?

SH: Ja, ja, natürlich. Er wird ganz sicher übertragen werden, da er untrennbar von der Drikung Kagyü Linie ist. Diese Übertragung erfolgt nur einmal im Leben. Ich glaube, ich selbst werde sie auch nur einmal in meinem Leben geben. Wir haben die Verantwortung, die gesamten Belehrungen und Traditionen der Drikung Kagyü Linie jetzt der nächsten Generation weiterzugeben. Viele von uns (die älteren Rinpoches) sind schon alt, gehen schon auf die sechzig zu. Deshalb müssen wir sicherstellen, daß die Linie nicht unterbrochen wird, sondern weitergeht.

HL: Was sind Ihre Hoffnungen für die nächste Generation?

SH: Ich denke daß die zukünftige Generation stärker und besser sein wird. Naropa und Milarepa und viele Linienmeister prophezeiten, daß in der Drikung Kagyü Linie jede neue Generation besser sein würde als die vorige. Sie sagten das! Aber auf der anderen Seite bin ich nicht sicher, ob unsere Generation besser ist als die früheren Generationen, was Retreats und Verwirklichung betrifft – vor allem, wenn wir uns mit solchen Linienlamas wie Milarepa vergleichen! Aber wenn wir die Sache aus einer anderen Perspektive betrachten, in Hinsicht auf die Erziehung der Rinpoches, Mönche und Nonnen, glaube ich, daß diese jetzt besser ist. Auch versuche ich, heutzutage die Mönche und Nonnen dazu zu ermutigen, einen offenen Geist zu entwickeln und exponierter zu sein.

Ein anderer Aspekt liegt in den Texten. Frühere Ausgaben, zum Beispiel, waren oft mit Schreib- und Übertragungsfehlern durchsetzt. Ich arbeite zur Zeit an einem Textprojekt, und die neuen Ausgaben der Drikung Kagyü Texte, die wir heute haben, sind zehnmal besser als die alten. Aus dieser Perspektive entwickeln sich die Dinge gut. In der Vergangenheit wurden Mönche nur einseitig erzogen, aber heute vermitteln wir ihnen auch andere Bereiche, so daß sie effektiver anderen helfen und sich auf die Gegenwart beziehen können. Sie sind heute offener. Daher bin ich optimistisch.

Was Retreats betrifft, gibt es auch gerade eine Gruppe, die ein Dreijahresretreat absolviert hat. Sie haben das Retreat vollkommen abgeschlossen, und einige von ihnen haben schon darum gebeten, längere Retreats durchführen zu dürfen. Einige von ihnen konnten sehen, daß, obwohl verschiedene Texte unterschiedlich an ein Thema herangehen, die wesentlichen Punkte doch übereinstimmen. Und so sind sie offen für Alternativen.

Der Buddhismus war in der Vergangenheit hauptsächlich auf Asien beschränkt. Aber nun erstreckt er sich über die ganze Welt. Das ist noch eine Verbesserung. Ich bin optimistisch.

HL: Danke, Eure Heiligkeit!

Aus Rundbrief 1/2001