Die sechs Bardos

Auszüge aus einem Vortrag von Drubpön Kunsang

Einführung

[…] So kann man sagen, dass das, was wir als freudiges Leben bezeichnet haben, mit dem Annehmen von Karma, also Ursache und Resultat zusammenhängt, und das, was als friedvoll bezeichnet wird, damit in Verbindung steht, dass man annimmt, dass es weitergeht, also dass es Wiedergeburt gibt.

Wenn wir dieser Vorstellung weiter folgen, kommen wir dahin, dass wir annehmen, dass es etwas gibt, was ein Zwischenzustand ist. Man nennt es im Tibetischen ‚Bardo‘, d.h. das, was zwischen dem Ende dieses Lebens und einem neuen Leben existiert. Es ist ein bisschen so, als ob wir mit einem Flugzeug irgendwo hinfliegen wollen und haben einen Zwischenstopp. Dann sind wir an dem Flughafen in einem Transit, in einer Übergangsphase. Wir können nicht aus dem Flughafen raus, sondern wir müssen in der Transitzone bleiben. Genauso ist es auch, wenn wir uns im Bardo, d.h. dem Übergang von einem Leben ins nächste befinden.

So sagten Milarepa und andere Meister, dass wir dieses Leben als eine Vorbereitung dafür nehmen sollten, dass wir auch ein gutes nächstes Leben haben können. Eigentlich ist das, was man als ‚das tibetische Totenbuch‘ bezeichnet, ein Buch für das Leben, denn es geht darum, wie wir eine gute, neue Existenz erlangen können.

Unser physischer Körper ist wie eine Pension und mit der Zeit wird diese alt. Unser Geist bzw. Bewusstsein ist der Gast, der sich darin befindet. Wenn man merkt, dass jetzt diese Behausung alt wird und droht, zusammenzubrechen, denkt man: „Es ist besser, wenn ich ausziehe und mir irgendwo eine neue Unterkunft suche oder ein neues Appartement nehme.“ So können wir dann freudig dieses Haus verlassen, weil wir denken: „Ich bekomme jetzt wieder ein frisches, neues Zuhause.“ Daher können wir auch freudig sterben, wenn wir eine andere Perspektive haben.

Das ist nicht nur für Buddhisten so, auch andere Personen, die diese Vorstellung haben, mögen den Gedanken, dass etwas Neues entsteht, ein neuer Körper da ist. Wenn wir akzeptieren können, dass es ein Leben danach, also so etwas wie Wiedergeburt gibt, ist zwischen dieser Existenz und der im nächsten Leben ein Übergang. Das ist es, was man ‚Bardo‘ nennt.

[…] Prinzipiell werden sechs verschiedenen Bardos oder Zwischenzustände gelehrt. Diese Zwischenzustände sind etwas, wo wir einen bestimmten Zustand verlassen haben, aber noch nicht in einem anderen angekommen sind. Es ist so, als ob wir Zuhause losgegangen, aber noch nicht an unserem Ziel angekommen sind. Drei von diesen Bardos beziehen sich auf das Leben.

1. Der Bardo des Lebens

Der erste Bardo ist der, der zwischen Geburt und Tod liegt. Das ist das Leben, das wir jetzt leben. In diesem Leben haben wir sehr viele Möglichkeiten, uns auf das vorzubereiten, was kommen wird. Es gibt im Buddhismus viele verschiedene Übungen, die man ausführen kann, um sich vorzubereiten. Häufig beginnt man mit den ‚vier Gedanken‘, die eine gute Vorbereitung auf das bieten, was letztendlich passiert, wenn man stirbt und in ein nächstes Leben übergeht. Man denkt z.B. über den kostbaren menschlichen Körper bzw. dieses Leben, das man jetzt hat, nach, um diese Möglichkeit wirklich zu nutzen. Man versucht, seinen Geist zu üben, indem man ihn von den sogenannten ‚Geistesgiften‘ wie Unwissenheit, Anhaftung, Hass, usw. reinigt. All das dient dazu, sich vorzubereiten. So ist es wichtig, dass man auf dem buddhistischen Pfad verschiedene Übungen durchführt, die einen nach und nach besser vorbereiten.

Dazu gehört auch, dass man sich mit der Vergänglichkeit beschäftigt und bewusstmacht, dass wir vergänglich sind (das wissen wir alle), aber dass es nicht sicher ist, wann unser Leben zu Ende sein wird. Wir können keine Voraussage machen, wie lange wir leben werden. So sagen die tibetischen Yogis: „Man weiß nicht, was zuerst kommt, ob der nächste Tag oder das nächste Leben.“ […]

2. Der Bardo des Traumes

Der zweite Bardo ist der Bardo des Traumes. Das geschieht während der Nacht und läuft ähnlich ab wie der Sterbeprozess. Wenn wir die Träume genauer betrachten, ist das, was wir träumen, eine Reflexion oder es sind bestimmte Eindrücke, die wir am Tag gesammelt haben. Daher spricht man von diesem Zwischenzustand des Traumes. […]

Es gibt spezielle Übungen, die man ausführen kann, wenn Träume auftreten, damit man diese erkennen kann und sieht, dass ist alles letztendlich nur eine Illusion ist. Das ist eine sehr wichtige Praxis. Wenn wir überlegen, wie viel Zeit wir mit Schlafen verbringen, wenn wir 100 Jahre alt würden, dann sind das sind vielleicht 30 Jahre. Man kann man diese Zeit prinzipiell gut nutzen, um weitere Erfahrungen zu machen und mit seinem Geist zu arbeiten. Es ist also sehr hilfreich, wenn wir in dem Traumyoga, d.h. den Übungen, die Träume zu erkennen, gut geübt sind. Das wird auch unser Leben einfacher machen. Wenn Leute kommen und uns irgendetwas Grobes oder Unangenehmer sagen, dann können wir einfach denken: „Das ist jetzt wie ein Traum, das ist nicht wirklich.“ So können wir lernen, mit den Dingen ganz anders umzugehen.

3. Der Bardo des Samadhi

Der dritte Zwischenzustand innerhalb des Lebens ist Samadhi oder das Verweilen in geistiger Ruhe. Das bedeutet, dass wir Meditationen ausführen, um unseren Geist besser kennenzulernen. Wir lernen unseren Geist zu steuern oder zu kontrollieren, sodass der Geist ruhiger und friedvoller wird. Wenn wir keine Möglichkeit haben, unseren Geist ruhig und friedvoll zu halten, wird es uns auch zum Zeitpunkt des Todes sehr schwer fallen oder nicht möglich sein, einen ruhigen, friedvollen Geist aufrecht zu erhalten. […]

Wenn man große Meister in Asien betrachtet, dann sieht man, dass sie keine Angst haben. Sie können mit einem sehr ruhigen, friedvollen Geist in den Sterbeprozess gehen und werden keinen der Zwischenzustände dort mehr erreichen, sondern können direkt Erleuchtung oder Befreiung erlangen. Einige von diesen Meistern meditieren, nachdem sie gestorben sind, oder schon Wochen oder Monate vor ihrem Tod. Auch, wenn dann die Körperfunktionen aufgehört haben, meditieren sie noch über lange Zeit in einem sehr ruhigen Zustand weiter. Das ist nicht etwas, was einfach daher gesagt wird, sondern das hat Lama Kunsang selbst gesehen. Solche Personen sind in einem sehr ausgeglichenen Zustand, sie lächeln sogar ein wenig. Man kann sehen, dass die Übungen wirklich dahin führen, dass man mit einem ruhigen und friedvollen Geist gehen kann. So ist die Meditation eine wichtige Vorbereitung, sowohl für den Tod, als auch für das nächste Leben.

4. Der Bardo des Sterbens

Der nächste Bardo ist der Bardo des nahen Todes. Zu dieser Zeit merkt man oder versteht man, dass der Prozess des Sterbens beginnt und es kein Entrinnen mehr gibt. Man weiß, dass man nicht mehr lange zu leben hat. Wir können das Leben in verschiedene Phasen einteilen, wie in die vier Jahreszeiten mit Frühling, Herbst, Sommer und Winter. Zu diesem Zeitpunkt ist man am Ende des Herbstes und merkt, dass jetzt bald der Winter kommt. Die verschiedenen Bestandteile lösen sich langsam auf. Es gibt Erklärungen, wie sich die äußeren, die inneren und die geheimen Bestandteile auflösen. […]

5. Der Bardo der Dharmata

Es gibt dann noch zwei Bardos nach dem Tod. Der fünfte Bardo ist der Bardo des Dharmata. Dharmata ist Sanskrit und bedeutet ‚die Natur selbst‘. Man nimmt an, dass unser Bewusstsein eine Kontinuität besitzt, die auch nach dem Tod weitergeht. Wenn man seinen Geist zu Lebzeiten nicht geübt oder vorbereitet hat, wird die Zeitspanne nach dem Tod 49 Tage dauern, bis das Bewusstsein wieder einen neuen Ort, d.h. einen neuen Körper gefunden hat. Während dieser Zeit können sehr viele Dinge erscheinen, die in den Kommentaren erklärt werden. […]

6. Der Bardo des Werdens

Der sechste Bardo ist der Bardo des Werdens, wo die Prozesse beginnen, um wieder eine neue Existenz anzunehmen. Es gibt viele verschiedene Arten der buddhistischen Praxis, die man dafür als Übung ausführen kann. Deshalb gibt es auch so viele verschiedene Gottheiten, die in der Meditation verwendet werden. Das sind Mittel und Vorbereitungen, um eine gute Wiedergeburt anzunehmen. Es geht darum, dass man versucht, den Geist in einem sehr positiven oder guten Zustand zu halten. Wenn negative Einstellungen im Geist aufkommen, sei es z.B., dass man mehr Anhaftung im Geist hat, kommt es entsprechend dem buddhistischen System dazu, dass man Geburt in einem Menschenbereich annehmen kann. Wenn mehr Unwissenheit oder Verwirrung im Geist ist, gelangt man in den im Tierbereich. So gibt es für die sechs verschiedenen negativen Emotionen oder Geistesgifte die verschiedenen sechs Bereiche, in denen das Bewusstsein eine Existenz annehmen kann.