An alle Halter der glorreichen Drikung Kagyü Dharma-Linie
So wie wir alle die Ausdehnung des Raumes kennen, wissen die meisten von euch bereits, dass ich am Tag des Festes der Drehung des Dharma-Rades (Chökhor Düchen) zusammen mit einigen Tulkus, einem Khenpo, einer Khenmo – und anderen, insgesamt acht Retreat-Teilnehmern in einer Gruppe, eine dreijährige und 45-tägige Retreat-Praxis in der Dorje Nak Ri Retreat-Einsiedelei in Ura Sumrang, Bhutan, beginnen werde. Da es sich um eine Praxis der Vajrayana-Tradition des Großen Fahrzeugs handelt, ist es unnötig zu sagen, dass vom Beginn der Erzeugung von Bodhicitta bis zum Ende der Widmung des Verdienstes eine strenge Abgeschiedenheit zum Wohle der fühlenden Wesen der sechs Bereiche eingehalten werden muss. Tatsächlich gaben sich die Kagyü-Meister vergangener Zeiten nicht mit einer Praxis von nur drei Jahren und 45 Tagen zufrieden. Die Söhne des Siegreichen – Tilopa, Naropa und andere – praktizierten zum Beispiel zwölf Jahre lang Meditation, und Milarepa tat dies sein ganzes Leben lang.
Nachdem wir auf der Grundlage des Zuhörens, Kontemplierens und Meditierens über den Dharma in die Lehren des Siegreichen eingetreten sind, darf unsere Praxis – wie von Drikung Kyobpa empfohlen – nicht nur darin bestehen, „Körper und Sprache ruhelos und beschäftigt zu halten“. Man sollte sich nicht mit bloßen tugendhaften Handlungen des Körpers und der Sprache beschäftigen, wie z.B. mit der Anhäufung von Niederwerfungen, Umrundungen von Stupas, Mantra-Rezitationen und so weiter. Vielmehr besteht der wesentliche Kern des Dharma darin, die letztendliche Bedeutung des Geistes durch gründliche Praxis zu erkennen, diesen Geschmack zu schmecken und ihn im Geistesstroms zu stabilisieren, indem man sich daran gewöhnt, so dass das eigene tägliche Leben mit dem Dharma erfüllt wird.
Die großen Dharma-Linien des tibetischen Buddhismus sind wie die großen Säulen eines riesigen Hauses, von denen jede die Balken des großen Hauses der Lehren des Buddha hält. Zum Beispiel haben die Nyingmapas ihre drei Praktiken der „Acht Gebote, Sammlung von Absichten und Vajrakilaya“, während die Gelugpas von ihren drei Praktiken „Chakrasamvara, Guhyasamaja und Vajrabhairava“ sprechen, und so weiter. Wie jeder weiß, befinden sich diese Traditionen nach wie vor in einem Zustand der Blüte und Fülle und zeigen deutlich ihre jeweiligen Stärken. Es scheint jedoch, dass die meisten von uns Kagyüpas für lange Zeit die klare Identität von Marpa Kagyü verloren haben. Anstatt die Säule unserer eigenen Dharma-Linie hochzuhalten, scheint es, als hätten wir uns versammelt, um es für die Dharma-Säulen anderer zu tun.
Wenn ein Kloster ein großes Drikung Kagyü Kloster ist, dann muss es, um seinem Namen wirklich gerecht zu werden und die Drikung Kagyü zu repräsentieren, nicht nur die Drubchös der Marpa-Tradition Chakrasamvara, Hevajra und Guhyasamaja durchführen, sondern seine großen Gemeinschaftsrituale müssen sicherlich auch die Essenz unserer eigenen Kagyü-Tradition repräsentieren. Aus der Perspektive der persönlichen Praxis eines Einzelnen spielt es natürlich keine Rolle, welche religiöse Tradition man praktiziert; es ist eine Frage der persönlichen Wahl. Aber aus der Perspektive einer Linie ist jede Linie dafür verantwortlich, ihre Kernidentität und ihre Traditionen aufrechtzuerhalten und zu bewahren.
Da ich in die Fußstapfen der großen Kagyü-Meister trete und ein Langzeit-Retreat in Übereinstimmung mit den strengen Regeln unserer Tradition unternehme, bitte ich Sie um Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Bemühungen im Hinblick auf diese klaren Richtlinien, die ich hier dargelegt habe.
Geschrieben von dem, der mit dem Namen „Seine Heiligkeit der Drikungpa“ gesegnet ist, Konchok Tenzin Kunzang Tinle Lhundup, am 3. Tag des 6. Monats des Holzschlangenjahres (2025).