ayang

Wege des Bewusstseins im Wandel von Leben und Tod

Öffentlicher Vortrag von S.E. Ayang Rinpoche, 1991

Grundsätzlich ist es so, dass alle Wesen gleich sind, denn sie alle wollen Glück erleben und Leiden vermeiden. Es gibt auf dieser Welt zwei verschiedenen Einstellungen zum Leiden: die einen wollen nichts über das Leiden wissen, sie möchten es nicht sehen und verdrängen es. Die anderen wollen sehr genau wissen, was das Leiden ist und was seine Ursachen sind. Jene, die nichts über das Leiden wissen möchten, können keinen Sinn in einem spirituellen Pfad sehen. Diejenigen, die aber etwas über das Leiden und seine Ursachen wissen wollen, haben Interesse an einem spirituellen Pfad. Sie wollen herausfinden, was das Leiden ist und wie man ihm begegnen kann, damit es geringer wird.

Beiden Gruppen ist aber gemeinsam, dass sie Glück erleben und Leiden vermeiden möchten. Es gibt zwei Wege, die man gehen kann. Der eine Weg beinhaltet positive Handlungen, die zu Glück führen und der andere beinhaltet negative Handlungen, die Leiden hervorrufen werden. Egal welcher Vorstellung man zustimmt, die Tatsache, dass ein Ursache-Wirkungs-Prinzip besteht, ist für alle Wesen gleich.

Da ich ein Praktizierender des Buddhismus bin, vertraue ich auf den
buddhistischen Weg. Ein wesentlicher Punkt des Buddhismus ist, zu erkennen, was das Leiden ist und was seine Ursachen sind. Wenn man die Ursachen des Leidens erkannt hat, muss man herausfinden, wie die Ursachen umgewandelt oder bereinigt werden können. Im Vajrayana oder tantrischen Buddhismus hat Buddha gelehrt, was das Leiden ist und dass es im Samsara Leiden, aber kein wirkliches Glück gibt. Dies betrifft auch den Vorgang des Sterbens.

Während des Sterbevorganges gibt es drei verschiedene Phasen: die erste Phase tritt ein, wenn wir aufhören zu atmen. Die zweite Phase ist der Zwischenzustand und die dritte ist die Wiedergeburt. Es gibt sehr detaillierte Belehrungen über den Sterbeprozess. Ich werde hier eine kurze Zusammenfassung geben.

Das Leben besteht aus Bewusstsein und Materie, die in Form der fünf Elemente existieren. Es entsteht, indem das Bewusstsein mit der Materie der Eltern zusammentrifft. Wenn die Essenz der fünf Elemente mit dem Bewusstsein zusammenkommt, wird von Leben gesprochen. Im Augenblick des Todes löst sich die Essenz der fünf Elemente wieder in die äußeren Elemente auf.

Im Tibetischen Totenbuch wird erklärt, dass unser Fleisch die Essenz des Erdelements ist. Zum Zeitpunkt des Todes löst sich das Fleisch wieder in das äußere Element der Erde auf. Als nächstes löst sich die Essenz des Blutes in das äußere Element des Wassers auf. Dann löst sich die Körperwärme in das Feuerelement auf. In diesem Moment zieht unsere Körperwärme von den Füßen nach oben zum Kopf und unser Mund und unsere Nase werden trocken. Als nächstes geht das innere Windelement, unser Atem, in das äußere Windelement über. In unserem Körper haben wir viele verschiedenen Arten von Winden, die verschiedene Funktionen haben, über die ich jetzt nicht im einzelnen sprechen kann. Es sei aber soviel gesagt, dass sich die beiden unteren und die beiden oberen Winde im Herzchakra auflösen. Danach wandern die Tropfen ins Herzzentrum. Für jeden dieser Tropfen atmet der Sterbende einmal aus und anschließend hört der äußere Atem auf. Zu diesem Zeitpunkt wird der Tod der Person festgestellt. Allerdings hat nur der äußere Atem aufgehört, der innere Atem geht weiter.

Bei der Zeugung haben wir den Samen des Vaters und das Blut der Mutter empfangen, die nun wieder im Herzzentrum zusammentreffen. Im Moment des Zusammentreffens der beiden Tropfen befindet sich das Bewusstsein der Person zwischen diesen beiden Tropfen und die Geistesgifte der Begierde und des Hasses verschwinden fast vollständig. Zu diesem Zeitpunkt hört der innere Atem auf. Dieser Moment wird Augenblick des klaren Lichts genannt. Wenn die Meditation vollkommen ist und man dieses klare Licht erkennt, wird man in diesem Moment die Erleuchtung auf der Dharmakaya-Ebene erlangen. Dies kann man der Person ansehen, z.B. daran, dass sie weiterhin in der Lotusposition meditiert. Selbst bei jenen, die nicht in der Lotusposition meditieren können, sondern dies im Liegen tun müssen, verändert sich der Gesichtsausdruck nicht und er hat den gleichen Glanz wie zu Lebzeiten. Bei großen Meistern, die eine hohe Realisation erlangt haben, kann man Wärme im Herzen nachweisen. Wenn die Sterbenden in dieser Meditationshaltung sind, sollte man sie nicht berühren, bis die Meditation beendet ist. Nach der Meditation verändern sich diese Sterbenden genauso wie es normalerweise geschieht, indem die Glieder steif werden und das Gesicht seinen Glanz verliert.

Diejenigen, die zu ihren Lebzeiten noch nicht die wahre Natur ihres Geistes erkannt haben und auch keine Erfahrungen in gewöhnlichen Meditationen gemacht haben, können das klare Licht zum Zeitpunkt des Erscheinens nicht erkennen. Es tritt eine Bewusstlosigkeit ein. Diese gewöhnlichen Wesen erlangen ihr Bewusstsein wieder, wenn der Zustand des klaren Lichts vorüber ist. Sie haben dann nicht das Gefühl gestorben, sondern nur eingeschlafen und wieder aufgewacht zu sein. Dieser Sterbevorgang wird als Zwischenzustand des Todes bezeichnet. Der Zeitraum vom endgültigen Sterben bis zum Zeichen einer neuen Wiedergeburt wird Dharmata-Zwischenzustand genannt. In dieser Zeit erscheint die Natur des Bewusstseins in Form von verschiedenartigen Visionen.

Wenn ein Wesen aus der Bewusstlosigkeit des Todes im Dharmata-Zwischenzustand erwacht, hat es das Gefühl, alleine in einem leeren Haus mit neun Fenstern und Türen zu sein, das zusammenfällt. Die neun Öffnungen des Hauses sind die neun Körperöffnungen (zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenöffnungen, der Mund und die zwei unteren Öffnungen). Das Wesen hat das Gefühl, dass dieses Haus sehr alt ist und fast über ihm zusammenbricht, was darauf zurückzuführen ist, dass die fünf Elemente sich auflösen. Das Wesen hat das Gefühl, nicht in diesem Haus verweilen zu können und es verlassen zu müssen. Bei dem Gefühl, das Haus verlassen zu müssen, verlässt das Bewusstsein den Körper. Je nachdem, aus welcher Körperöffnung das Bewusstsein den Körper verlässt, wird es in einem entsprechenden Bereich wiedergeboren. Das Wesen kann zu diesem Zeitpunkt nicht entscheiden, ob es durch die unteren oder oberen Körperöffnungen entweicht, denn das hängt ganz allein von seinem Karma ab, also den Handlungen, die es in seinem Leben ausgeführt hat.

Wenn das Bewusstsein den toten Körper verlassen hat, hat das Wesen die Vorstellung, den gleichen Körper wieder zu haben. Dieser Körper wird als Geistkörper bezeichnet. Entsprechend seiner Anhaftung im vorherigen Leben wird das Wesen Orte, Personen und Situationen aus seinem Leben antreffen. Es wird auch versuchen, mit seinen Familienangehörigen Kontakt aufzunehmen, z.B. setzt es sich zu ihnen, wenn sie essen, und versucht mit ihnen zu sprechen. Die anderen können es aber nicht sehen oder hören, da es nur einen Geistkörper besitzt. Dann erkennt es, dass es tot ist und es erlebt viele Leiden und große Angst.

Während des Lebens manifestieren sich einhundert Gottheiten in unserem Körper und diese verlassen den Körper jetzt wieder. Das Geistwesen kann diese Gottheiten nacheinander erkennen. Im tibetischen Totenbuch wird die Reihenfolge und Zeit ihres Erscheinens genau aufgeführt und die Erscheinungen werden genau beschrieben. In dem Zeitraum, in dem es die 100 Gottheiten sieht, wird es große Angst haben, weil es sie im Leben zuvor nicht gekannt hat. Das Erscheinen der Gottheiten wird mit einer Vielzahl von Lichtern und Geräuschen begleitet und das Geistwesen erlebt viele verschiedene Arten des Leidens.

Diejenigen, die aus ihren Lebzeiten mit den einhundert Gottheiten vertraut sind, werden sie im Zwischenzustand wiedererkennen und keine Furcht vor ihnen haben. Wenn sie genügend Hingabe und Vertrauen entwickeln, wird sich das Bewusstsein in das der Gottheit auflösen und es kann Befreiung erlangen. Diese Art der Befreiung wird die Sambhogakaya-Befreiung genannt. Im tibetischen Totenbuch werden diese Vorgänge sehr detailliert beschrieben.

Das Wesen erfährt aber auch wunderbare Kräfte, so kann es z.B. die Gedanken anderer Wesen lesen oder es kann durch Wände, Felsen und Berge gehen. Es kann auch von einem Moment zum anderen in ein Land oder an einen Ort gehen, wenn es nur den Wunsch danach hat. Es kann sich auch an den Prozess des Todes und den Zustand der Bewusstlosigkeit erinnern. Dieser Zustand ist aber nur von kurzer Dauer. Dies wird als das begrenzte Leben im Zwischenzustand bezeichnet.

Schließlich wird es in einem der sechs Bereiche des Samsara wiedergeboren. In der ersten Hälfte dieses Zwischenzustandes wird es sich erinnern, welchen Körper es im früheren Leben gehabt hat. Danach kann es erkennen, welchen Körper es entsprechend seinem Karma im nächsten Leben annehmen wird. Dann erscheinen ihm Zeichen, die dem Bereich seiner nächsten Geburt zugeordnet sind. Zu diesem Zeitpunkt hat das Wesen einen sehr starken Wunsch, sich wieder zu verkörpern. Der Zeitraum bis zum Eintritt in den Mutterschoß beträgt bis zu 49 Tagen.

Dies ist eine kurze Zusammenfassung über das Sterben, den Zwischenzustand und die Wiedergeburt. Eine detaillierte Beschreibung findet man im tibetischen Totenbuch und anderen Texten. Weiterhin gibt es viele verschiedene Belehrungen und Methoden, wie man sich auf den Tod vorbereiten kann und wie man sich während des Sterbens verhalten soll.

Wir sollten uns bewusst machen, dass wir ein kostbares Leben besitzen und wir sollten genau untersuchen, was dieses kostbare Leben ist und was wir Sinnvolles damit tun können. Dann sollten wir uns auch überlegen, wie wir das kommende Leben besser gestalten als das jetzige. Wenn wir in diesem Leben nichts für die nächste Wiedergeburt tun, können wir sicher sein, dass wir nicht wieder so ein kostbares menschliches Leben erlangen, sondern als Tier, hungriger Geist oder Höllenwesen wiedergeboren werden. Wenn wir gerne Leiden, dann macht das nichts und wir können weiter in unserer Unwissenheit verweilen. Wenn wir aber Glück erlangen wollen, dann müssen wir uns schon in diesem Leben darauf vorbereiten.

Dies ist ein kurzer Auszug aus einem Vortrag, der von
S.E. Ayang Rinpoche 1991 in Aachen in englischer Sprache
gehalten und von Falko Duwe ins Deutsche übersetzt wurde.
Die Tonbandaufzeichnung wurde von Getsül Könchog Paglam
abgeschrieben, von Bettina Aders editiert und schließlich von
Tendzin Chödrön überarbeitet und für den Rundbrief gekürzt.

Aus Rundbrief 3/2001