Tibetische Wörterbücher – Segen und Fluch zugleich

Jeder, der sich in irgendeiner Form mit der tibetischen Sprache beschäftigt, stößt früher oder später auf das Problem der Wörterbücher. So notwendig und segensreich sie auch sind, sie beinhalten doch auch viele Probleme, dass wohl jeder Benutzer schon einmal an ihnen verzweifelt ist. In diesem Artikel möchte ich kurz einige Wörterbücher und damit zugleich auch die mit ihnen verbundenen Probleme vorstellen.

Was sollte ein zwei- oder mehrsprachiges Wörterbuch heutzutage leisten? Zwar hängt das in erster Linie von den Bedürfnissen der Benutzer ab, es gibt jedoch einige Aspekte, die für jeden wichtig sind (ganz gleich, ob sich die Benutzer jeweils dessen bewusst sind, oder nicht). Dies sind, meiner Ansicht nach, drei miteinander zusammenhängende Punkte:

(1) In einem Wörterbuch müssen Wortfelder deutlich voneinander abgegrenzt werden. Will man zum Beispiel das deutsche Wort Tor ins Englische übersetzen, dann muss in unserem Wörterbuch durch getrennte Einträge unterschieden werden in ¹Tor = Durchlass und ²Tor = Narr.

(2) Innerhalb von ¹Tor müssen wiederum die verschiedenen Teilbedeutungen sichtbar gemacht werden. Hier gibt es verschiedene Stufen. Zunächst muss unterschieden werden in die beiden Teilbedeutungen "Durchlass" im Sinne von Ein-, Aus- oder Durchgang und "Durchlass" im Sinne von "Gehäuse, in das beim Fußball der Ball geschossen werden muss (= goal)". Für den Ein-, Aus- und Durchgang müssen dann wiederum verschieden Verwendungen angegeben sein, da diese jeweils anders übersetzt werden müssen: Tor (architektonisch)= gate; (im Fels) = arch; (von Garage, Scheune) door; (im Gletscher) mouth.

Diese verschiedenen Bedeutungen und Teilbedeutungen dürfen keineswegs unterschiedslos (gleichwertig) und womöglich unsortiert in einer Reihe stehen: Tor = gate, fool, arch, door, goal, mouth. Die Folge wäre, dass ein Benutzer raten müsste, welche Bedeutung am ehesten in Frage kommt. In einem vor kurzem entstandenen tibetisch-englisch Wörterbuch, dass unter Tibetisch-Übersetzern als CD kursiert, findet man z.B. folgenden Eintrag:

sdom pa = vow<s>/ precept/ ordination; vow, oath, promise, vows. commitment, to bind, to fetter, to bind to ties fast, to pinion, to bind up, to add, sum, total, to dress, to control/ restrain; to restrict/ confine, to control, to make agree, to bring to an agreement, to reconcile, to conciliate, virtuous vow; unified; self?control/ restraint, restrictions, vows that restrict; something that limits or restricts; limitations, restraints, constraints, circumscriptions, strictures; limitations, confinements, constrainments.

Nicht nur, dass hier überhaupt nicht nach nominalem und verbalem Gebrauch unterschieden wird ("commitment, to bind"), es stehen auch vollkommen unterschiedliche (und z.T. fragwürdige) Bedeutungen unmittelbar nebeneinander ("bind up, to add, sum, total, to dress, to control"). Darf man sich hier einfach eine Bedeutung aussuchen? In der Praxis erlebe ich gerade das im Tibetischunterricht häufig: Studenten sind froh, überhaupt irgendeine Bedeutung gefunden zu haben, und biegen sich dann eine passende zurecht.

(3) Doch selbst bei korrekt differenzierten Wortbedeutungen in einem guten Wörterbuch kann es immer noch Schwierigkeiten machen, die richtige Bedeutung zu identifizieren. Deswegen ist der dritte wichtige Aspekt eines guten mehrsprachigen Wörterbuchs die Dokumentation der Verwendung. Dies kann zum einen wie oben gezeigt geschehen: Tor (architektonisch)= gate; (im Fels) = arch; (von Garage, Scheune) door; (im Gletscher) mouth. Zum anderen werden in professionellen Wörterbüchern Belege für die einzelnen Verwendungen gegeben, die zum Teil sogar historisch gegliedert werden, denn ein Begriff kann im Laufe der Jahrhunderte einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren. So bezeichnete Frau etwa im Mittelhochdeutschen nur die adelige Herrin und Weib bedeutete damals, was heute als Ehefrau bezeichnet wird, während Weib bestenfalls nur noch ironisch in diesem Sinn verwendet werden kann. Besonders wichtig sind die Verwendungsbeispiele, wenn es um Phraseologien geht (jemandem das Tor zu etwas öffnen [einen Zugang zu etwas verschaffen] = to open somebody’s eyes to something; das Tor zur Karriere öffnen = to open the door to a career for her).

Zu den Belegen gehört in der Regel auch eine Quellenangabe, d.h. ein Hinweis darauf, in welchem Text der Begriff mit dieser Bedeutung verwendet wurde. Dies ist auch für Übersetzungen aus dem Tibetischen von Gewicht. "Byang chub sems" etwa bedeutet in Texten der Bodhisattva-Tradition "Entschluss zu erwachen", im Mantra jedoch häufig "Samenflüssigkeit". Vor allem zwischen Alltagsgebrauch und philosophischem Sprachgebrauch gibt es im Tibetischen bei ein und demselben Wort oft erhebliche Bedeutungsunterschiede.

All diese Forderungen sind in den uns zugänglichen zwei- oder mehrsprachigen Wörterbüchern des Tibetischen bisher nur unzulänglich umgesetzt worden. Dabei ist es höchst erstaunlich, dass die ältesten Wörterbücher (etwa Jäschke von 1881!) diese Forderungen weitaus besser umsetzen, als modernere Wörterbücher, die dies zum Teil überhaupt nicht tun.

Neue, digitale Wörterbücher

The Illuminator Tibetan-English Dictionary (Tony Duff)
Hier werden zwar die Bedeutungen, die dem Autor (Tony Duff) bekannt sind, differenziert, es gibt jedoch keine Belegstellen und so ist man bei den (teilweise wortreichen und eigensinnigen) Erläuterungen auf Gedeih und Verderb allein auf Tony Duffs Verständnis angewiesen. Außerdem beruht das Vokabular wiederum allein auf Duffs Lektüre und scheint fr ühere Wörterbücher nicht miteinzubeziehen.

Rangjung Yeshe Dictionary (Eric Schmidt)
Das oben angegebene Beispiel zu sdom pa stammt aus diesem "Wörterbuch". Es enthält alle Fehler, die man beim Wörterbuchmachen begehen kann. Nur erfahrene Übersetzer sollten es als letzten Ausweg benutzen, um eventuell eine Anregung zu erhalten.

Tibetisch-Englisch/Deutsche Wörterbücher der klassischen Schriftsprache

Csoma de Körös (1834)
Tibetisch-Englisch. Leider unübersichtlich sortiert. Es dürfte ohnehin zum größten Teil in die späteren Wörterbücher (J äschke, Das) eingegangen sein.

Schmidt (1843)
Übersetzung von Körös ins Deutsche.

H. A. Jäschke (1871-81)
Vom linguistischen Standpunkt aus das brauchbarste zweisprachige Wörterbuch. Sein Umfang ist jedoch begrenzt, vor allem im religiös-philosophischen Bereich. Es existiert eine handschriftliche (faksimile) Fassung von 1871 in Deutsch. Jäschke hat ein sicheres Gespür für die grundlegendste Bedeutung der Worte. Standardwerk.

Sarat Chandra Das (1902)
Umfangreicher als Jäschke, diesem jedoch in linguistischer Hinsicht unterlegen. Die Sanskrit Äquivalente sind zum Teil frei erfunden oder unkritisch aus anderen Quellen übernommen. Wieviel die Editoren G. Sansberg und A.W. Hyde (im Guten wie im Schlechten) beigetragen haben, lässt sich nicht genau sagen. Es bleibt bis heute eines der wichtigsten weil umfangreichsten zweisprachigen Wörterbücher, es ist jedoch nicht so verl ässlich wie Jäschke.

G.N. Roerich (1920er-1933)
Tibetisch-English mit Sanskrit Parallelen. 65000 Einträge. Basiert auf Sarat Chandra Das, erweitert um zu jener Zeit zugängliche tibetische und tibetisch-mongolische Glossare sowie später um einige tibetische Glossare und Wörterbücher, die in den 1950ern in Peking publiziert wurden. Die Ausgabe ist schwer zu bekommen, wer sie hat, kann sich glücklich schätzen, denn dies dürfte das bis zum heutigen Tag das umfangreichste zweisprachige Wörterbuch sein.

Tsepak Rigdzin
Tibetisch-Sanskrit-Englisch. Mit Vorsicht zu genießen. Es enthält, vor allem im Sanskrit, zahllose Fehlschreibungen. Es scheint mir ein bisschen dogmatisch zu sein, aber man kann es vorsichtig bei grundlegenden philosophischen Begriffen mit heranziehen.

In Vorbereitung
Das große, Ende der achtziger Jahre zuerst erschienene Tibetisch-Tibetisch-Chinesisch Wörterbuch Bod rgya tshig mdzod chen mo wurde in Englisch übersetzt. Diese Auslieferung scheint sich jedoch aus rechtlichen Gründen zu verzögern. Dieses Buch wird das Leben der Tibetisch-Anfänger erheblich erleichtern. Das Beste an diesem Buch sind die zahlreichen Verwendungsbeispiele. Ein Nachteil ist leider, dass der Vorgang des Übersetzens recht unprofessionell abgelaufen ist und daher mit einer unterschiedlichen Qualität der einzelnen Artikelbeiträge zu rechnen ist. Dennoch wird dieses Wörterbuch, sobald es erhältlich ist, auf viele Jahre ein Standardwerk sein.

Modernes Tibetisch-Englisch

Bis vor kurzem gab es hier eine große Auswahl mehr oder weniger guter Wörterbücher. Nun gibt es eines, dass alle anderen überflüssig macht:

Melvyn Goldstein
Modernes Tibetisch-Englisch. In der neu überarbeiteten Fassung von 2002 das definitive Standardwerk. Obwohl es sich auf modernes gesprochenes und literarisches Tibetisch konzentriert, enhält es viele Eintragungen, die auch für das klassische Tibetisch von Bedeutung sind und in anderen Wörterbüchern nicht enthalten sind. In dieses Wörterbuch sind praktisch alle früheren Wörterbücher des moderenen Tibetisch eingegangen, einschließlich einer großen Zahl von Tibetisch-Tibetisch Wörterbüchern. Es ist auch ein sehr gutes Hilfsmittel, um selbst mit Tibetisch-Tibetisch Wörterbüchern arbeiten zu können.

Jan-Ulrich Sobisch

Aus Rundbrief 3/2003