Avalokiteshvara

Die Praxis des Mahayana

Die Praxis von Liebe und Mitgefühl als ein Mittel gegen eigennütziges Denken

Wenn wir große Liebe zu allen fühlenden Wesen entwickelt haben, entstehen grenzenlose heilsame Wirkungen, denn eine derartige Liebe ist wie eine Opferung an alle Buddhas. Alle anderen Wesen fühlen sich zu uns hingezogen und wollen uns beschützen. Dieser Zustand bewirkt Frieden und Glück für uns selbst und wird der gesamten Umgebung nutzen. Wir werden weder unter Waffen noch unter Gift zu leiden haben, unsere Wünsche erfüllen sich mühelos, und wir werden in h öheren Bereichen wiedergeboren.

Indem man Liebe entwickelt, ist man nicht dem eigenen Frieden und Glück verhaftet, sondern denkt vielmehr an andere. Liebe ist der geistige Zustand, in dem man sich wünscht, dass alle fühlenden Wesen Glück und die Ursachen von Glück erfahren mögen. Das Ziel jeglicher Bem ühungen ist das Wohlergehen aller ohne Ausnahme.

Bevor wir Liebe zu allen fühlenden Wesen entwickeln, denken wir zuerst über die Liebe nach, die unsere Mütter im Laufe vieler Jahre für uns gehabt haben. Als wir geboren wurden, waren wir wie ein kleines Insekt, unfähig, irgendetwas zu tun. Danach gab uns unsere Mutter zu essen und zu trinken. Sie opferte sich auf, um uns Kleidung und Unterkunft zu geben und versuchte, uns auch sonst zu erfreuen. Selbst, wenn es ihr an geeigneten Mitteln mangelte, versuchte sie, uns alles zu geben, was wir brauchten. Alles, was sie für ihr Kind benötigte, erlangte sie durch schwere Arbeit. Unsere Mutter beschützte uns außerdem vor Feuer, Wasser, Stürzen und anderen Gefahren. Sie sorgte sich über unsere Gesundheit und unser Wohlergehen. Wir wussten nichts, als wir geboren wurden, doch unsere Mutter lehrte uns sprechen, freute sich selbst über unsere ersten unsicheren Worte und Schritte, überwachte unsere Erziehung und hoffte, sie k önnte uns zum Besten von allen machen.

Wenn ein Freund uns ein wenig behilflich ist oder uns eine Tasse Tee anbietet, sind wir sehr dankbar. Deshalb sollten wir einmal darüber nachdenken, wie viel mehr an Dankbarkeit unsere Mutter verdient, die so viel f ür uns getan hat.

Als Nächstes meditieren wir über die Tatsache, dass wir in unzähligen Leben immer wiedergeboren wurden. Daher sind alle fühlenden Wesen irgendwann einmal unsere Mütter gewesen. Deshalb vergegenwärtigen wir uns, dass alle Wesen gütig zu uns gewesen sind. Diese Güte können wir zurückgeben, indem wir Liebe praktizieren und allen Glück und die Ursachen von Glück wünschen. Die Liebe, die wir für unsere Mutter empfinden, dehnen wir auf unsere Verwandten, unsere Freunde, unsere Landsleute und schließlich auf jedermann aus, einschlie ßlich derer, die wir als unsere Feinde betrachten.

Kyobpa Jigten Sumgön sagte:

“ Wenn man nicht liebevoll über seine Mutter denken kann,
soll man an einen lieben Freund denken
und dieses Gefühl von dort ausdehnen.“

S.H. Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche erklärt:

“ Wir können uns auch ein kleines Kind vorstellen,
zu dem wir spontan Zuneigung empfinden.
Wir möchten es beschützen und wünschen ihm, dass es kein Leid erfährt.
Dieses Gefühl dehnen wir dann nach und nach auf alle Wesen aus.“

(Ergänzung durch Tendzin Chödrön, aus einem Vortrag von
S.H. Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche in Aachen)

Mitgefühl ist der Wunsch, alle fühlenden Wesen mögen frei sein vom Leiden und den Ursachen des Leidens. Wenn unsere Mutter oder ein enger Freund eine Krise erleben, ist es unsere Aufgabe, ihnen zu helfen. Selbst wenn unsere Mutter oder ein enger Freund verrückt sind, versuchen wir, ihnen zu helfen. In der gleichen Weise sollten wir allen fühlenden Wesen, die durch die drei Geistesgifte (Begierde, Hass, Unwissenheit) verblendet sind, helfen und versuchen, ihre Sichtweise zu ändern.

Wenn jemand großes Mitgefühl zu allen Wesen entwickelt hat, wird er die Qualitäten eines Buddha erlangen. Das ununterbrochene Üben von Mitgefühl ist ein geschicktes Mittel in der Praxis der Bodhisattvas.

Liebe und Mitgefühl sind die Essenz der Weisheit des Buddha.
Sie sind der Nektar, der alles in die Arznei verwandelt,
durch die die Krankheiten des Geistes geheilt werden.
Sie sind das Licht der Weisheit,
das die Dunkelheit der Unwissenheit vertreibt.

Bodhicitta als Mittel gegen das Unverständnis darüber, wie man Erleuchtung erlangt

Zuflucht

Bevor wir Bodhicitta entwickeln, müssen wir zuerst das Zufluchtsritual kennen und durchführen. Machtvolle weltliche Gottheiten, Berge, gewaltige Bäume, Götter, Nagas, Eltern oder andere Verwandten können uns keine Zuflucht gewähren. Der Grund dafür ist, dass derjenige, der Zuflucht gibt, frei von allen Ängsten, Leiden und den Ursachen des Leidens sowie frei von Verwirrung sein muss. Da gewöhnliche Wesen nicht frei von Leiden sind, können sie kein Objekt der Zuflucht sein.

Die drei Objekte der Zuflucht sind:

  • Der Buddha als derjenige, der vollkommen frei von Verwirrung, Furcht und Leiden ist
  • Der Dharma als der einzige Weg, Buddhaschaft zu erlangen
  • Der Sangha als die einzige Gemeinschaft, in der der Dharma praktiziert wird.

[…]

Unwissenheit, Hass und Begierde sind die drei Gifte des Samsara.
Der Buddha ist frei von diesen drei Giften.
Der Buddha wird der Macht dieser Gifte ein Ende bereiten.
Der Dharma ist frei von Giften.
Durch die Macht des Dharma werden die Gifte gereinigt.
Der Sangha ist makellos.
Durch die Macht der Wesensart dieser vortrefflichen Gemeinschaft
werden die Gifte gereinigt.

[…]

Die zwei Arten von Bodhicitta

Es reicht nicht aus, anderen Liebe und Mitgefühl zu wünschen, sondern wir müssen Methoden anwenden, diese Einstellung umzusetzen. Diese Methoden sind bekannt als

  • relatives Bodhicitta, welches den Pfad des Strebens und den Pfad der Ausführung umfasst
  • absolutes Bodhicitta, welches eine Vereinigung von Leerheit und Mitgefühl ist, grenzenlos und unbefleckt und jenseits aller Konzepte.

Ist Bodhicitta erst einmal entfaltet, sollte man nicht ein einziges Wesen aufgeben.

Relatives Bodhicitta umfasst zwei Aspekte:

Der Aspekt des Strebens bedeutet, dass der Wunsch vorhanden ist, Erleuchtung zu erlangen. Dieser Wunsch ist vergleichbar mit dem Wunsch, an einen bestimmten Ort zu reisen. Der Aspekt der Ausführung ist wie die tats ächliche Reise an das gewünschte Ziel.

[…]

Die Praxis des Bodhicitta des Strebens

Die Praxis des Bodhicitta des Strebens umfasst: kein einziges fühlendes Wesen aufzugeben, sich die nutzbringenden Wirkungen von Bodhicitta ins Gedächtnis zurückzurufen und die Meditation darüber, dass Bodhicitta der Same der Erleuchtung ist. Es ist das wunscherfüllende Juwel und der Schutz, unter dem alle Geborgenheit finden.

Um die Kraft von Bodhicitta zu entfalten, praktiziert man die zwei Ansammlungen (Verdienst und Weisheit). Man übt kontinuierlich die Einstellung von Bodhicitta durch Liebe und Mitgefühl. Mindestens einmal am Tag wiederholt man die Bodhisattva-Gelübde und erinnert sich an die Regeln. Man soll die vier negativen Handlungen vermeiden und die vier positiven Handlungen entwickeln.

Die vier negativen Handlungen sind:

  • einen spirituellen Meister oder andere verwirklichte Wesen zu belügen
  • unbegründeten Zweifel oder Reue über die tugendhaften Handlungen anderer hervorzurufen
  • andere Bodhisattvas zu missachten
  • andere Wesen zum eigenen Vorteil zu täuschen.

Die vier positiven Handlungen sind:

  • selbst bei der Gefahr, das eigene Leben zu verlieren, keinen spirituellen Meister oder andere verwirklichte Wesen zu belügen
  • alle fühlenden Wesen in die Lage zu versetzen, tugendhaftes Mahayana-Verhalten zu üben
  • alle Bodhisattvas als Buddhas zu betrachten und das Wissen über ihre guten Eigenschaften überall zu verbreiten
  • uneigennützig mit reiner Motivation zum Wohle aller Wesen zu wirken.

[ …]

Wenn wir Bodhicitta entwickeln, ist es wichtig, zwei Ziele im Auge zu behalten:

  • die Erlangung der Erleuchtung (oder die Suche nach der reinen Weisheit des Buddha)
  • das Wohlergehen aller fühlenden Wesen ohne Ausnahme.

Wo immer es Wesen gibt, sind auch störende Gefühle und Karma vorhanden, und deshalb gibt es dort auch verschiedene Ebenen des Leidens. Deshalb fassen wir den Entschluss, alle fühlenden Wesen von diesem Leiden zu befreien. Es gibt vier Voraussetzungen, um den Erleuchtungsgeist (Bodhicitta) zu entwickeln:

  • man sieht den spirituellen Meister als den Buddha selbst an
  • man hat im Mahayana-Pfad Zuflucht genommen
  • man übt sich in der Praxis der Vier Unermesslichen
  • man sammelt großen Verdienst und Weisheit an.

Die positiven Resultate, die sich aus der Entwicklung auf dem Pfad des Strebens ergeben, sind folgende: Indem man in die Bodhisattva-Familie eintritt, erhält man die Übungen eines Bodhisattva, wodurch die Wurzel der unheilsamen Handlungen abgeschnitten wird; der Same der Erleuchtung wird gelegt; man sammelt grenzenlose Verdienste und Weisheit an; man erfreut alle Buddhas; man nutzt allen Wesen; und man erlangt schnell die vollkommene Erleuchtung.
Auf der Grundlage des Pfades des Strebens hat das Bodhicitta der Ausführung die folgenden positiven Resultate: man erfährt ununterbrochen persönlichen Nutzen und man ist in der Lage, anderen Wesen durch vielfältige Handlungen zu nützen.

Alle Buddhas der drei Zeiten haben die Erleuchtung durch diese Übung erreicht, die für die Erlangung der Buddhaschaft unbedingt notwendig ist. Wenn wir die Bodhisattva-Gelübde nicht einhalten, werden wir nicht in der Lage sein, anderen zu helfen oder die Erleuchtung zu erlangen und wir werden weiter in den niederen Bereich wiedergeboren werden.

Die sechs Paramitas (Vollkommenheiten)

Das Bodhicitta der Ausführung wird durch das Studium und die Praxis der sechs Paramitas erreicht. Das Wort Paramita leitet sich von ‚param‘, jenseits der Küste und ‚ita‘, die Ankunft nach der Überquerung des Ozeans von Samsara, ab. Dies verweist auf die Vollkommenheit der Weisheit. Es schließt auch die Vollendung der Stufe der Buddhaschaft sowie die Methode dazu ein.

Die sechs Paramitas sind:

  1. Freigebigkeit
  2. Ethik und Verhalten
  3. Geduld
  4. Freudige Anstrengung
  5. Konzentration
  6. Weisheit

[…]

Auszug aus: Khenpo Könchog Gyaltsen: Auf der Suche nach dem Reinen
Nektar des langen Lebens, Grundlagen des Buddhismus
Herausgeber: Drikung Kagyü Verlag (DKV)
Verlag: Simon + Leutner, Berlin
Vertrieb: Mandala – Der Dharma-Shop im Buddhistischen Zentrum Aachen
Online-Shop: http://mandala.drikung.de

Das Buch ist als Restposten im Online-Shop im Angebot zu 5,00 € (statt 14,- €).

Aus Rundbrief 3/2005