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Die Essenz der Lehre des Buddha

Aus einem Vortrag von Ven. Ontul Rinpoche, Oktober 1988

Nachdem Buddha Shakyamuni die Erleuchtung erlangt hatte, sagte er: „Ich habe den tiefgründigen Dharma erreicht, der wie Nektar ist. Er ist tief, friedvoll, frei von geistigen Konzepten und Konstruktionen und frei von Ursachen und Bedingungen. Dieser Dharma ist so tiefgründig, daß niemand ihn verstehen kann.“

Daraufhin gab der Buddha sieben Wochen lang keine Belehrungen. In dieser Zeit wurde er von den Königen der himmlischen Bereiche gebeten, seine Einsichten denjenigen mitzuteilen, deren Geist nur wenig getrübt ist. Aufgrund dieser Bitten begann er, das „Rad der Lehre“ zum Wohle der Wesen zu drehen.

Die Vier Edlen Wahrheiten

Der Ort, an dem Buddha Shakyamuni die ersten Belehrungen gab, war Varanasi. Dort gab er den fünf Mönchen, die vorher seine Begleiter waren, die Belehrungen über die „Vier Edlen Wahrheiten“. Außer den fünf Mönchen, die gewöhnliche Menschen waren, haben noch viele Wesen aus den Götterbereichen und Geist-Wesen den Belehrungen zugehört. Die Mönche erreichten durch die Erklärungen des Buddha sofort eine hohe Realisation, die Arhatschaft. Auch die himmlischen Wesen und die Geist-Wesen, die zugehört hatten, erreichten Verwirklichungen.

Das Thema dieser ersten Belehrungen waren die Vier Edlen Wahrheiten. „Wahrheiten“ heißt im tibetischen „den pa“. Das ist etwas, was uns nicht enttäuscht, d. h. auf einer bestimmten Ebene so ist, wie es wirklich ist, frei von Täuschungen. Die Vier Edlen Wahrheiten beschreiben also die Wirklichkeit so wie sie ist. Sie sind die Essenz der Lehren des Buddha. Diejenigen, die die Befreiung erlangen möchten, befassen sich daher mit dem Verständnis der Vier Edlen Wahrheiten.

Die vier Wahrheiten bestehen aus zwei Gruppen. Die beiden ersten Teile gehören zu unserem gewöhnlichen, verblendeten Zustand, wie er jetzt ist und die zwei weiteren gehören zum erleuchteten Zustand des Geistes.

Dies sind die wahren Leiden.
Diese sind zu durchschauen.

Dies sind die wahren Ursprünge des Leidens.
Diese müssen aufgegeben werden.

Dies sind die wahren Beendigungen des Leidens.
Diese können erlangt werden.

Dies sind die wahren Pfade zur Beendigung des Leidens.
Diese müssen geübt werden.“

Die Vier Edlen Wahrheiten stehen in Zusammenhang mit dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Die Ursachen sind unsere unheilsamen Handlungen und die Wirkungen sind die verschiedenen Arten von Leiden, die daraus hervorgehen. Die Hauptursache des Leids ist die Unwissenheit. Aus der Unwissenheit gehen die geistigen Konstruktionen, das Bewußtsein und die 12 Glieder des abhängigen Entstehens hervor.

Zuerst beschreibt der Buddha die Wahrheit des Leidens. Er geht in seiner Lehre also zuerst von der Wirkung, die wir alle erfahren, aus. Die zweite Edle Wahrheit ist die Wahrheit über die Ursachen. Um diese Ursachen aufzugeben, müssen wir erkennen können, was Leiden ist. Die Ursache und das Leid selbst ist etwas, was zum Kreislauf des Daseins gehört und was aufgegeben werden muß. Den Kreislauf des Leidens bezeichnet man als Samsara.

Die dritte Edle Wahrheit beschreibt den Zustand der Befreiung oder Erleuchtung. Schließlich erklärt der Buddha in der Vierten Edlen Wahrheit den Weg, der zum Zustand der Befreiung führt. Wenn wir diesem Pfad folgen, verwirklichen wir einen Zustand, in dem wir frei von allem Leid sind. Das ist Nirvana.

Unwissenheit – die Hauptursache allen Leidens

Als erstes müssen wir verstehen, was mit Unwissenheit gemeint ist. Die Unwissenheit ist die Hauptursache des Leidens. Aus ihr gehen alle anderen Ursachen hervor. Die Unwissenheit bezieht sich auf die Wahrnehmung der Phänomene.

Die Phänomene sind in Wirklichkeit frei von jeder Unterscheidung, aber dies können wir nicht erkennen. Mit unserem gewöhnlichen Bewußtsein folgen wir dualistischen Konzepten. Wir sehen die Unterschiede, das Trennende. Das ist ein Zustand, der nicht gereinigt ist. Dieser Zustand der Nicht-Achtsamkeit verführt uns zu der Annahme, daß wir eine Vorstellung von einem Selbst haben, das zwischen uns und dem anderen einen Unterschied macht. Diese Unkenntnis der wahren Natur der Dinge bezeichnet man als Unwissenheit.

Die Unwissenheit ist sehr stark mit den sogenannten fünf Skandhas (Aggregate, Anhäufungen) verbunden. Wir bestehen aus körperlichen und geistigen Aggregaten. Diese Aggregate sind mit unseren Vorstellungen verbunden und dadurch entsteht das starke Gefühl von einem „Selbst“. Dadurch unterscheiden wir zwischen uns selbst und allem, was davon getrennt ist. Es entsteht das Gefühl von „anderen“. Zu allem, was zu unserem Selbst gehört, entwickeln wir Zuneigung, zu allem anderen eine Form von Abneigung und Haß. Diese Vorstellung bezeichnet man als Unwissenheit.

Die Geistesgifte

Daher spricht man davon, daß als Folge dieser falschen Konzepte die drei Geistesgifte Begierde, Haß und Unwissenheit entstehen. Dazu kommen zwei weitere, nämlich Stolz und Eifersucht. Diese fünf Geistesgifte sind aus den falschen Vorstellungen über das Selbst entstanden. Sie sind die Grundlage für das Entstehen aller Leiden und Probleme. Dies kann man damit vergleichen, daß viele Pflanzen wachsen und gedeihen können, wenn es im Sommer fruchtbar und warm ist.

Aufgrund der drei Geistesgifte Begierde, Haß und Unwissenheit entstehen die drei Arten von Handlungen: heilsame Handlungen, unheilsame Handlungen und bewegungslose Handlungen. Unheilsame Handlungen führen zu einer Geburt in den drei niedrigen Bereichen und zu mehr Leiden. Heilsame Handlungen führen zu einer Geburt in den höheren Bereichen und zu mehr Glück. Die „bewegunslosen“ Handlungen, die in tiefen Meditationszuständen entstehen, führen zur Wiedergeburt in den höheren Existenzbereichen.

Die drei Geistesgifte Begierde, Haß und Unwissenheit werden als Kleshas (störende Gefühle) bezeichnet. Diese sollten auf jeden Fall aufgegeben werden. Das ist unsere hauptsächliche spirituelle Praxis. Dazu sagt Padampa Sangye:

„Wenn aus diesen drei Geistesgiften störende Gefühle entstehen und wir nicht das geeignete Gegenmittel dafür anwenden, ist der Sinn unserer Dharma-Praxis verloren.“

Dies versteht man unter der Ursache des Leids, also der zweiten der Vier Edlen Wahrheiten. Durch die verschiedenen Geistesgifte wandern die Wesen in den Drei Bereichen hin und her und erfahren verschiedene Formen von Leiden. Die Drei Bereiche umfassen den Bereich der Begierde, den Bereich der Form und den Bereich der Formlosigkeit. Dazu heißt es:

„Dieses Wandern der Wesen gleicht den Bemühungen einer Fliege, die sich in einem geschlossenem Gefäß befindet. Sie bewegt sich immer auf und ab, aber sie kann nicht entkommen.“

Kurz zusammengefaßt kann man sagen: Alle Leiden entstehen aus den Geistesgiften. Die Wurzel dieser Geistesgifte ist eine falsche Auffassung der Realität. Die falschen Ansichten kann man zusammenfassen und in drei Gruppen unterteilen:

  • das, was vergänglich ist, sehen wir als beständig an,
  • das, was eigentlich Leid ist, betrachten wir als Freude,
  • das, was ohne Selbst ist, betrachten wir als ein Selbst.

Aufgrund dieser falschen Konzepte von Dauerhaftigkeit, Freude und einem falschen Selbst entstehen die fünf Aggregate, und daraus entstehen die störenden Gefühle. Dies wird verständlicher, wenn wir uns einmal mit den 12 Gliedern des abhängigen Entstehens befassen.

Samsara – der Daseinskreislauf

Zuerst gibt es eine verzerrte Sichtweise, daraus entstehen die Aggregate. Diese führen zum Entstehen in einem der Daseinsbereiche, z.B. im Menschenbereich oder einem anderen der niedrigen oder höheren Bereiche. Zu den drei höheren Bereichen gehören der Menschenbereich, der Bereich der Halbgötter (Asuras) und die Götterbereiche. Was man im Menschenbereich an Leid erfahren kann, wissen wir alle. Manchmal sind wir auch sehr glücklich, aber wir machen danach die Erfahrung, daß dieses Glück nicht sehr lange dauert und daß das Leben sehr wechselhaft ist. Es gibt sehr genaue Beschreibungen der verschiedenen Arten von Leiden in den sechs Daseinsbereichen.

In den Schriften wird gesagt, daß die Bereiche des Daseins von ihrer Natur her Leiden sind. Das Umherwandern in den verschiedenen Bereichen wird damit verglichen, als würde man in einem Feuer sitzen, dem man nicht entkommen kann. Es ist so, als ob man in einem Haus oder einer Höhle sitzt, die voll von giftigen Schlangen ist oder als würde man sich auf einer Insel befinden, die von fleischfressenden Dämonen bewohnt wird.

Das tibetische Wort für den Kreislauf der Existenz ist „korwa“. Das bezeichnet einen Kreis, so wie man sich ein Wasserrad vorstellt, das sich immer in der gleichen Richtung dreht. Damit wird die Existenz in den verschiedenen Bereichen verglichen. Entweder befindet man sich im Bereich der Menschen oder im Bereich der Tiere oder in einem der anderen Bereiche, aber man bleibt immer in diesem Kreislauf gefangen, es gibt keinen Ausweg. Das Leiden wiederholt sich immer wieder, und auch unsere Handlungen und Erfahrungen wiederholen sich.

Was den menschlichen Bereich angeht, so wissen wir, daß es schon Schmerzen bereitet, wenn man auf die Welt kommt. Wenn man älter wird, so ist es auch oft mit sehr viel Leid verbunden, und viele alte Menschen wünschen sich, daß sie bald sterben. Wir erleben auch sehr viel Leiden, wenn wir krank sind. Wenn wir dann sterben, lösen sich alle Aggregate auf und unser Bewußtsein verläßt den Körper. Auch dies ist manchmal sehr schmerzhaft. Deshalb wird in den Belehrungen gesagt, daß die Natur unserer Existenz Leiden ist. Es ist wichtig, daß man das Leid auch als Leid erkennen kann.

Der Weg zur Befreiung

Wir kommen nun zu den beiden Wahrheiten, die die Ursache und das Ergebnis auf der Seite der Befreiung beschreiben. Die Ursache ist der Weg und das Ergebnis ist die Erleuchtung selbst. Der Weg ist das, was wir mit der Hilfe der spirituellen Lehren entwickeln. Außerdem ist er von unserer eigenen Kapazität abhängig. Jeder Mensch hat das Potential, Erleuchtung zu erlangen. Entsprechend unserer Kapazität können wir die Übungen auf dem Weg praktizieren. Das Verwirklichen der letztendlichen Wirklichkeit oder der letztendlichen Wahrheit ist also von dem spirituellen Lehrer und von unserer Kapazität abhängig. Das Erkennen der letztendlichen Wirklichkeit ist das, was wir auf dem Weg entwickeln müssen, um die Befreiung zu erreichen.

Die Natur des Pfades ist, daß hierin Methode und Weisheit kombiniert werden und dadurch die Möglichkeit geschaffen wird, sich soweit zu entwickeln, bis man die Erleuchtung erlangt hat. Durch Übungen auf dem Pfad können wir die Natur des Leidens erkennen. Wir erkennen die Ursachen des Leids, und so kommen wir in die Lage, die Befreiung zu erlangen. Alle Methoden, die diese Entwicklung ermöglichen, werden als Pfad bezeichnet. Einer der Pfade wird durch die Vier Edlen Wahrheiten beschrieben.

Es gibt also nicht nur einen Weg, sondern es gibt unzählige Wege, und jeder muß entsprechend der eigenen Kapazität seinen Weg zur Befreiung aus den Leiden der Daseinsbereiche suchen. In der buddhistischen Lehre gibt es entsprechend der verschiedenen Fahrzeuge verschiedene Stufen und Pfade. Man folgt ihnen mit den entsprechenden Methoden, bis man die Erleuchtung erlangt hat.

Die stufenweisen Pfade bestehen aus fünf Abschnitten:

  • dem Pfad der Ansammlung
  • dem Pfad der Vorbereitung
  • dem Pfad des Sehens (das Erkennen der letztendlichen Wirklichkeit)
  • dem Pfad der Meditation
  • dem Pfad der absoluten Vollkommenheit oder dem Pfad des Nicht-mehr-Lernens.

Das sind die fünf Pfade, die verschiedene Methoden zur Befreiung aus dem Kreislauf des Leidens enthalten. Wenn man diesen folgt, wird man die letztliche Verwirklichung erreichen. Ob man dem Pfad folgt oder nicht, hängt von jedem selbst ab. Das ist genauso, wie wenn man eine gute Ernte auf dem Feld erzielen möchte. Die Ernte hängt von den Kenntnissen und den angewandten Mitteln und Methoden des Bauern ab, der das Feld bearbeitet. Es gibt unendlich viele Formen der Praxis und Meditation. Wir sollten etwas suchen, was unserer Kapazität entspricht. Es ist nicht möglich, daß ein Gewicht, welches ein Elefant tragen muß, von uns getragen wird. Darum sollten wir uns für eine Praxis entscheiden, die zu uns paßt und die wir auch wirklich ausführen können. Es gibt natürlich sehr viele tiefe Belehrungen und sehr viele tiefgründige Übungen in der Dharma-Praxis. Es gibt sicher auch verschiedene Methoden, von denen man sagt, daß man sofort in einem Moment die Erleuchtung erlangen kann, wenn man diese praktiziert. Aber auch dies hängt von der Kapazität des Individuums ab.

Aus einem Vortrag von Ven. Ontul Rinpoche, Oktober 1988 in Aachen, englische Übersetzung Ngawang Tsering, deutsche Übersetzung Magret Yoon, Abschrift und Überarbeitung Tendzin Chödrön

Aus Rundbrief 2/2000