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Der Strom des Segens

Bericht zum Schlangenjahr-Programm in Dehra Dun

Vom Oktober des letzten Jahres bis zum Beginn des Schlangenjahres wurden im Kloster Jangchub Ling in Dehra Dun zahllose Einweihungen und mündliche Übertragungen durch die höchsten Meister der Drikung-Kagyü-Linie gegeben. Wie bereits berichtet, hatten die Mönche der Drikung-World-Tour die Aufgabe übernommen, diese Veranstaltungen zu organisieren. Nachdem ich einige Tage in Delhi verbringen mußte, um auf mein verspätetes Gepäck zu warten, wurde ich von allen herzlich empfangen. Ich erhielt eine Unterkunft in den gerade fertiggestellten Zimmern der neuen Library-Anlage, ein Projekt, das neben einer großen Bibliothek verschiedene Räume für die Aktivitäten Seiner Heiligkeit umfaßt (vgl. Bericht zur Songtsen Library). Die Gebäude befanden sich noch im Bau, aber einige Räume konnten schon benutzt werden. Vor allem gab es hier ausreichend sanitäre Einrichtungen, was für Besucher aus dem Westen ein angenehmer Komfort ist. Die gesamte Anlage machte einen soliden Eindruck. Es wurde oft bis spät in die Nacht gearbeitet. Neben dem Grundstück befanden sich Hütten der Bauarbeiter, so daß neben der tibetischen Idylle im Kloster ein bißchen indisches Leben zu hören und zu sehen war.

In den fertigen Räumen waren hauptsächlich Besucher aus westlichen und fernöstlichen Ländern sowie einige Lamas untergebracht. Einige Besucher wohnten auch im Kloster, wie eine Gruppe eifriger Dharma-Praktizierender aus Estland, die während des kompletten Programms in Dehra Dun waren. Einige Nonnen aus Amerika hatten Unterkunft im Nonnenkloster gefunden, welches sich in den letzten Jahren ebenfalls sehr entwickelt hat. Auf dem Gelände befinden sich einige Häuser, in denen verschiedene Eminenzen untergebracht waren. Hier lebt auch Drubwang Rinpoche in einem bescheidenen Haus mit kleinem Garten neben dem Mandala-Tempel. Ein neuer Gebetsraum befindet sich im Bau, da der Mandala-Tempel für die ständig anwachsende Zahl der Nonnen langsam zu klein wird.

Das Schlangenjahr-Programm war schon in vollem Gange. Im Tempel und davor waren die Plätze der verschiedenen hohen Tulkus und Rinpoches, die am Programm teilnahmen. Außerdem waren ca. 60 Khenpos und Lamas sowie ca. 800 Mönche und Nonnen der verschiedenen Drikung-Klöster anwesend. Leider konnten einige Rinpoches aus Tibet nicht kommen, da die Ausreisebedingungen seit der Flucht des Karmapa verschärft wurden. Außerdem waren Laien-Anhänger, insbesondere aus Ladakh, und sogar aus Tibet gekommen. Während meines Aufenthaltes waren Besucher aus Europa und Chile anwesend, sowie aus Amerika, Malaysien und Taiwan.

Als ich in Jangchub Ling ankam, wurde S. H. Chetsang Rinpoche von einer kurzen Reise aus Dharamsala zurückerwartet und traf auch bald ein. Außerdem wurde S.E. Garchen Rinpoche erwartet, der letztendlich doch ein Visum für Indien erhalten hatte. In den ersten Tage konnte ich miterleben, wie S.E. Ontul Rinpoche die letzten mündlichen Übertragungen erteilte und bekam eine Vorstellung vom Programm-Ablauf der letzten Monate.

Nach der Ankunft von S.H. Chetsang Rinpoche, S.E. Garchen Rinpoche sowie Khenpo Könchog Gyaltshen gab es während meines Aufenthalts am Vormittag mündliche Übertragungen und Einweihungen von S.H. Chetsang Rinpoche oder S.E. Ontul Rinpoche. Später gab Khenpo Könchog Gyaltsen vormittags Belehrungen zum Gong Chik, die im Achi-Lhakhang von Lama Thämpel ins Englische übersetzt wurden.

An den Nachmittagen führte S.E. Garchen Rinpoche zahlreiche Einweihungen durch. Die entsprechenden Erklärungen wurden zunächst nach Ladakhi und anschließend ins Englische und Chinesische übersetzt. Zum Schluß ging S.E. mit einigen Tulkus und Rinpoches durch die Reihen, um alle Anwesenden durch die entsprechenden rituellen Gegenstände zu segnen. Täglich wurden Tormas in den verschiedensten Formen hergestellt und im Mandala arrangiert. Es bedurfte schon strenger Ordnungshüter, wenn alle Teilnehmer um das Mandala gehen wollten.

An manchen Tagen fanden Opferungspujas statt, und ab und zu gab es am Freitag nachmittag frei, um Besorgungen zu machen. Lama Dschampa, Lama Samten und Khenpo Rangdrol waren immer bereit, mir zu helfen, wenn es etwas zu organisieren gab oder wenn ich eine Übersetzungshilfe benötigte, um mit einigen Lehrern über Einladungen und Programme zu sprechen. Nebenher wurden auch Pläne für die Reise von einer Gruppe von etwa 15 Nonnen für das Jahr 2002 nach Europa sowie die Reisepläne Seiner Heiligkeit besprochen.

Das Wetter war für indische Verhältnisse "gut", d.h. nicht so heiß. In den ersten Tagen war es insbesondere am Abend und in der Nacht sehr kalt, und alle waren mehr oder weniger erkältet, insbesondere, wer bereits morgens oder am Abend an den täglichen Rezitationen teilnahm. Da es keine Heizmöglichkeiten gab, half viel heißer, würziger Tee und frühes Schlafengehen. Später wurde es schnell wärmer. An einem Tag gab es einen heftigen Regen, so daß die Mönche, die unter riesigen aufgespannten Zeltplanen saßen, in den Tempel und in die überdachten Gänge flüchten mußten, bis die Einweihungen abgeschlossen waren. Daraufhin mußten die Planen, die eigentlich als Sonnenschutz aufgespannt waren, repariert werden. Aber alle, insbesondere die jungen Mönche, waren mit Begeisterung und Ausdauer dabei. Es war ein besonderes Erlebnis, wenn alle im Chor die Wiederholungen und Gebete rezitierten.

Während der Veranstaltungen wurden immer wieder Zeremonien zur Inthronisation neuer Tulkus und zur Erteilung anderer Ehrungen durchgeführt. So erhielt Khenpo Könchog Gyaltsen den Titel Khenchen ("Großer Khenpo"), der höchste Rang, der nur selten von einem Mönch erlangt werden kann. Lama Samten u.a. wurden entsprechend ihren Aufgaben zu Drubpöns (Meditations-Meister) oder Khenpos (Abt) ernannt. Kurz vor meiner Abreise wurde K.C. Ayang Rinpoche offiziell zum Chöje ernannt. Dieser Titel wurde in der Vergangenheit dem Vertreter der Drikung-Linie in Ladakh verliehen, und er wird zur Zeit von S.E. Togdän Rinpoche gehalten. Auf Grund seiner Tätigkeit in Indien wurde Ayang Rinpoche offiziell zum Vertreter der Heiligkeiten der Drikung-Linie ernannt, was bereits vor einiger Zeit mit S.H. Chuntsang Rinpoche besprochen worden war.

Außerdem wurden Novizen, Mönche und Nonnen ordiniert, darunter auch verschiedene Westler. In Deutschland gibt es nun vier neue Ordinierte, die sich entschlossen haben, ihr Leben dem Dharma zu widmen.

Es ist üblich, zu solchen Anlässen Opferungen an die Anwesenden darzubringen. Außerdem wird die Möglichkeit der Anwesenheit so vieler Tulkus und Ordinierter auch von Einzelpersonen, Familien oder Gruppen genutzt, Opferungen an die Sangha durchzuführen. So gab es immer wieder große Vorbereitungen und Darbringungen. Dazu werden Texte verfaßt und vor allen Anwesenden verlesen, bevor die Opferungen verteilt werden. Die Tulkus, Khenpos, Lamas, Mönche und Nonnen erhalten Spenden mit oder ohne Kataghs. Außerdem können Tee-Opfer, Blumen, Butterlampen, Speisen und Geld-Spenden gegeben werden, wobei zahllose kleine Geldscheine, die vorher bündelweise in Plastik-Tüten von der Bank geholt wurden, an alle verteilt werden. Die Mönche des Organisations-Komitees standen immer mit Rat und Tat zur Seite. Neben einer gemeinsamen Darbringung der europäischen Zentren wurde auch von unserem Zentrum ein Mandala-Opfer durchgeführt, bei dem Butterlampen, Spenden und Speisen für die Mönche mit Gratulationen zur Entwicklung des Institutes überreicht wurden.

Die Opferungszeremonien wurden kurz vor meiner Abreise von einer Langlebens-Darbringung des Klosters von S.E. Ayang Rinpoche gekrönt, mit der gleichzeitig dieser Abschnitt der Übertragungen abschlossen wurde. Hier reisten auch viele Mönche in ihre Klöster zurück. Die Anwesenden erhielten noch einige Tage Belehrungen von S.E. Ayang Rinpoche. Danach sollten dann die vorbereitenden Gebete und Pujas für das weitere Programm des Schlangenjahres, welches nach dem tibetischen Neujahr stattfinden sollte, ausgeführt werden.

Hier endete auch mein Aufenthalt in Jangchub Ling, und es ging schnell über Delhi zurück nach Aachen. Fotos und Video-Aufnahmen bleiben eine Erinnerung an eine unvorstellbare Zeit, die nicht wirklich beschrieben werden kann. Die Eindrücke sind wie ein Traum, aber die Wirkung ist immer noch spürbar.

Ich freue mich sehr über die kraftvolle Entwicklung und gute Zusammenarbeit in der Drikung-Linie, die sich nun über die ganze Welt verbreitet. Ich kenne das Kloster in Dehra Dun seit 1987, als sich das erste Haus noch im Bau befand und die Grundmauern für das Kloster gelegt wurden. 1992 wurde es dann offiziell eröffnet und Land für ein Retreat-Zentrum dazu erworben, auf dem später auch das Nonnenkloster eingerichtet wurde. Es erfüllte mich mit großer Freude, die jungen Mönche und Nonnen sowie die Lamas und Yogis, die nun ihr erstes Retreat abgeschlossen haben, zu sehen. Hier wird ein Teil der zukünftige Generation ausgebildet, um den Dharma zu erhalten und weiterzugeben. Einige Lamas werden in ihre Klöster zurückkehren oder die neuen Retreat-Plätze nutzen, andere in westliche und östliche Länder gehen, um die Zentren und Institute zu betreuen.

Seine Heiligkeit Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche führt die Drikung-Linie mit großer Zielstrebigkeit, und ich bin glücklich, daß seine Pläne Unterstützung finden und die Drikung-Linie wieder wachsen kann. Das Programm zum Schlangenjahr war ein besonderes Ereignis, bei dem sich alle Drikung-Klöster versammelt haben und durch diese lange Zeit mit all den zahllosen Übertragungen durch den Segen der hohen Rinpoches miteinander verbunden sind.

Möge der Segen des Dharma weiter anwachsen und blühen
und vielen Wesen von Nutzen sein.

Tendzin Chödrön (Ani Elke)

Aus Rundbrief 2/2001